DIE KERNFORSCHER

Working Women Kapitel 4: Kunde und König 16. Dezember 2014

Endlich war etwas Ruhe eingekehrt. Franka hatte sich ohnehin schon gewundert, wie Anabel trotz des ganzen Krachs noch immer schlafen konnte. Das Gemüt eines Kindes müsste man haben.
Alle waren an ihre Plätze zurückgekehrt und auch Franka saß wieder am Schreibtisch. Ricardo Santoni war kurz gegangen, um sich angemessen anzuziehen, wie er sagte. Was das wohl heißen mochte, dachte Franka, die an seinen ersten Auftritt denken musste. Sie schaute zu James hinüber, der ihren Augenkontakt schon gesucht zu haben schien, denn so als könne er ihre Gedanken lesen, rollte er gleich mehrfach mit den Augen. Dann schielte er und hielt dabei die Zeigefinger links und rechts an die Oberlippe, um Santonis gigantischen Spitzbart zu simulieren. Franka musste schmunzeln, doch das “Ding Dong!” ihrer Bürosoftware riss sie in den Alltag zurück. “10:30 Meeting Janssen KB” stand da groß auf dem Bildschirm. Und “KB” stand für “Kommt zu Besuch”…

“Oh je!” stöhnte Franka leise. Das hatte sie fast vergessen. Es war jetzt 10:07 Uhr. In 23 Minuten würde ein möglicher Kunde kommen… “Oh mein Gott!” rief sie nun laut aus… und er würde mit diesem Ricardo Santoni zusammentreffen. Jetzt wurde ihr klar, was sich Manfred März insgeheim dabei gedacht hatte, als er ihnen vorhin wie beiläufig diesen “guten alten Freund” vorstellte. Die Zusammenarbeit war nicht für irgendwann gedacht, sondern bereits für heute! Für den Termin mit Dr. Lars Janssen! Fieberhaft durchsuchte Franka den Termineintrag nach aufschlussreichen Anhängen. Nichts.

Janssen war noch ein Kunde aus Zuchtstier-Zeiten. Genau genommen, war er ein umtriebiger, hanseatischer Investor, der seit Jahren in feine, kleine Startups investierte, sich als Person aber stets zurückhielt. Franka hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen, wusste aber, dass er einer der wenigen Pfeffersäcke in Hamburg war, der den Mut hatte, auch mal abseits der ausgetretenen Pfade zu wandeln. Eigentlich war es nur ein Gespräch zum beschnuppern. Manfred hatte es wohl geschafft, ihn irgendwie neugierig zu machen. Franka hätte sich ohrfeigen können, dass sie dieses wichtige Meeting aus den Augen verloren hatte. Doch kein Wunder: Sie hatte sich seit Wochen nur mit Dingen beschäftigt, um die sich die anderen nicht kümmern durften, konnten oder wollten.

Sie sah noch mal zu James hinüber, der mit faltiger Stirn über seinem Sketchbook saß. Sie winkte ihm heimlich zu. Doch das blieb unbemerkt. Zum Glück waren die beiden neuen Praktikantinnen anderweitig beschäftigt. “Das Ersatzmaterial für die Techniker” schoss es Franka durch den Kopf. Fünf Minuten später hatte sie ein unangenehmes Gespräch mit der schlecht gelaunten Sekretärin des Lieferanten hinter sich gebracht: Am Nachmittag sollte geliefert werden. Ganz bestimmt. So lange müssten die Handwerker dann eben warten. Grummelig nahm Gregor Lennart aus dem Foyer das zur Kenntnis: “Sie müssen´s ja wissen…”

Franka sah sich um. Nicht einmal der Bürofeldwebel Walter Frese schaute von seinem Schreibtisch hoch. Er saß da, vor sich ein Stapel Papier – vermutlich weitere Rechnungen – und lächelte. Zumindest dafür war sie Santoni dankbar. Franka stand auf und schlich an James Tisch vorbei. Als sie ankam, klopfte sie kurz auf die Tischplatte. James fuhr erschrocken hoch. “Garderobe?” fragte sie ihn und ging bereits weiter. “Garderobe” flüsterte er ihr leise und verschwörerisch hinterher. Ein paar Minuten später standen sie sich zwischen den Kartons gegenüber.

“Das geht gar nicht…” schoss es aus Franka heraus. “Captain Hook?” fiel ihr James ins Wort. “Captain wer?” Franka war jetzt nicht zum Spaßen zumute. Sie sah James eindringlich an und er begriff, dass hier keiner seiner kleinen Witze angebracht war. “Das geht nicht, James. Gleich kommt Dr. Janssen. Das gibt ein Desaster!” “Sie meinen, DER Dr. Janssen?” Jetzt war selbst James der Spaß vergangen. “Ja genau der. März hat da irgendetwas im Vorfeld versprochen und ihn wohl heiß gemacht. Und jetzt sind sie um halb Elf verabredet”, Frankas Stimme klang wie heiße Luft, die einem Dampfbügeleisen entwich. “Was?” James wurde ganz blass und rang nach Worten. “Äh, das geht wirklich nicht. Wenn der auf Santoni trifft, dann ist er schneller im Fahrstuhl als dieser Pronto Toronto sagen kann… So ein Sh…. Was machen wir jetzt? Haben Sie eine Idee?” Franka schaute auf die Uhr: “Noch 14 Minuten. Am besten wird es sein, wenn einer von uns mit März redet.”

Eine Minute später war sie bereits auf dem Weg zu Manfred März´ Schreibtisch, denn James hatte es abgelehnt, mit ihm zu sprechen. “Ich muss dringend an der Rede für heute Abend arbeiten”. Von dem vorherigen Garderobengespräch mit Manfred März hatte er ihr nicht erzählt. Franka sammelte ihren ganzen Mut zusammen. Ein Blick zum Sofa verriet ihr, dass Anabel noch immer schlief. Dann stand sie auch schon vor seinem Tisch: “Herr März?” Manfred hob den Kopf. Sein Blick sagte, dass er eigentlich ganz woanders war. “Was gibt´s Franka?” Fragend sah er sie an. “Ich,… gleich kommt Herr Dr. Janssen. Ich wollte Sie darauf ansprechen, dass…”

Doch Manfred schaute wieder auf sein Rede-Script, ließ aber einen Seitenblick durch den Büroraum schweifen, als wisse er genau, woher der Wind wehte. “Ich weiß, Franka. Ich habe ja den Termin eingetragen. Ich bin mir sicher, dass Ricardo, ähm, Herr Santoni rechtzeitig wieder hier sein wird, um… ach sehen Sie, da kommt er schon.”

Frankas Kopf schoss herum und sie sah, Santoni aus dem Fahrstuhl steigen.“ Ja, darum geht es ja gerade…” beeilte sie sich. “Sie können doch nicht…” Manfred starrte wie hypnotisiert auf Santoni“, der direkt auf sie zukam. “Was kann ich nicht, Frau Kruse?” Nur noch ein paar Meter und Santoni würde sie hören.

“Wird Herr Santoni an dem Gespräch teilnehmen?” Frankas Stimme klang mal wieder leiser, als sie es wollte. “Ja, das wird er.” “Das halte ich für keine gute…”, versuchte sie es noch einmal, doch da war Santoni schon am Tisch und ohne dass er sie berührt hatte, fühlte sich Franka beiseite gedrängt. “Mein Lieber, mein Guter… ach wie schön…”, von Manfred März war jetzt nichts mehr zu erwarten. Aber das war auch nicht nötig, denn in diesem Moment übernahm Santoni: “Hallo Manni, da bin ich. Bereit, wenn Du es bist! Wo findet das Meeting statt? Wo ist der Meeting-Room?” “Meeting-Room?” Manfred März dachte etwa drei Sekunden nach. “Haben wir nicht…” Einen Augenblick sah Santoni so aus, als befürchte er, sein Spitzbart würde auf der Stelle verwelken, doch dann hatte er sich wieder im Griff. “So what! Wir werden die Skills so posten, dass die Benefits alle Ratings sprengen! Was Money” Und mit einem Blick zu Franka flötete er: “Ich hätte gern einen Kaffee. Macht das Umstände?”

Jetzt war es Franka, die mit den Augen rollte, als sie zurück zu ihrem Platz ging. Ein Desaster würde es geben. Und das war noch harmlos formuliert. Als sie an ihrem Schreibtisch saß bemerkte sie noch, wie James sie mit seinen Blicken zu durchbohren schien. Ohne ihn anzuschauen, schüttelte sie nur kurz mit ihrem Kopf und war sicher: James verstand sofort. Dann machte es auch schon “Ding Dong!” und auf ihrem Monitor erschien eine Meldung von März: “Bitte drei Kaffee!” Es war lange her, dass Franka so viel Ärger herunter schlucken musste. Sie ging Richtung Küche und sah, wie eine Praktikantin herbeigelaufen kam, und vor dem Fahrstuhl Aufstellung nahm. Just in diesem Moment öffnete sich die Tür und heraus trat ein älterer Herr, unauffällig gekleidet, graue Haare, dunkelgrauer Anzug, Hornbrille. Er schnüffelte in der Luft, als wolle er einen besonderen Duft ausmachen. Ihm folgte eine zierliche Frau, ebenfalls grauer Schopf, in einem schlichten Kostüm. In der einen Hand hatte sie einen Regenschirm, in der anderen eine Aktentasche, der man ihr viel zu hohes Gewicht ansehen konnte. Beide folgten der Praktikantin.

“Eine Katastrophe bahnt sich an!” rief Franka Mary zu, die sich wieder ihren Küchenaktivitäten zugewandt hatte. Vor sich einen riesigen Berg mit Sandwiches, auf einem großen Silbertablett zu einer Pyramide getürmt. “Franka, my Dear. Alles in Ordnung?” Sie sah etwas verwirrt aus, denn Franka hatte etwas in ihrem Blick, was sie so vorher noch nicht gesehen hatte. “Dieser eitle Geck wird uns den ganzen Tag ruinieren. Und Herr März dackelt ihm wie an einer unsichtbaren Leine hinterher. Das gibt eine Katastrophe!” Mary sah sie an und schmunzelte versonnen: “Ach, Du meinst diesen netten Herrn, den Samtoni?” “Santoni! Ja, den meine ich. Der hat von Tuten und Blasen keine Ahnung.” “Ach Kindchen, der ist doch ganz nett. Vielleicht bringt er etwas frischen Wind hier herein. Und, well, wollen wir das nicht alle?” Franka wusste, dass sie hier nicht weiter kam… “Haben wir noch Kaffee?” “Kaffee?” “Ja, Kaffee. Und zwar vier Tassen. Und vielleicht ein paar Kekse dazu. Es findet gerade ein Meeting statt.” “Sofort!” Mary griff in den Schrank und förderte vier Tassen zutage, schenkte Kaffee ein und stellte alles zusammen mit einer geblümten Schale Kekse auf weiteres Tablett.

“Bringst Du ihnen das?” fragte sie etwas unsicher. Denn ihre Küche verließ sie nicht so häufig – schon wegen Walter Frese, der das nicht mochte. “Worauf Du Dich verlassen kannst”, gab Franka entschieden zurück, schnappte sich das Tablett und verschwand ohne ein weiteres Wort. “Bitte. Sehr gern geschehen”, rief Mary ihr hinterher, dann machte sie sich wieder an die Sandwiches.

10:41 Uhr

Franka hörte es schon aus der Ferne. “Ho ho ho! Da haben Sie vollkommen Recht meine Liebe. Was wir in der Tat machen, das sind Crossmedia-Mix Kampagnen hinsichtlich Recall, Recognition und User-Engagements. Da können wir uns ganz schnell committen. Ich… “ Irgendjemand schien ihm ins Wort zu fallen. Franka konnte aber die Stimme nicht erkennen. Im gesamten Newsdesk war es ansonsten mucksmäuschenstill. Irgendwo klingelte ein Telefon, um sofort wieder aufgelegt zu werden.

“Ja. Ja. Ja. Nein. Nein. Nein bestimmt nicht. Wie kommen Sie denn da drauf, mein Gute? Da fehlt Ihnen vielleicht der Praxisbezug, um das wissen zu können. Wir initiieren ein Programmdesign, das seinesgleichen sucht! YNN ist crisp und fresh. Ein vollkommen neues Medium. Ich…”.

Wieder wurde er unterbrochen. Franka konnte jetzt sehen, dass die kleine Gruppe an Manfreds Schreibtisch stand, denn es gab nur einen Stuhl. Es hätte sie nicht gewundert, hätte Santoni darauf Platz genommen. Übrigens hatte er sich nicht nur in Schale geworfen und sah aus, wie ein hünenhafter Oberkellner, mit schwarzer Weste, weißen Hemd und Fliege. Er hatte wohl auch dazu noch einige frische Spritzer seines blumigen Parfums aufgetragen. Doch irgendwie schien er trotz seiner honorigen Körpersprache unsicher. Er plusterte sich derartig auf, dass die drei anderen sicheren Abstand hielten. Frau Janssen hatte noch nicht einmal ihren Schirm abgelegt, so als würde sie ihn für den Verteidigungsfall griffbereit halten. Franka blieb zwei Meter entfernt stehen. Endlich konnte sie auch hören, was die anderen sagten…
“Junger Mann. Das hört sich ja alles ganz spannend an, aber können Sie das bitte einem ahnungslosen Mann wie mir so erklären, dass er weiß, wovon Sie sprechen?” Herr Dr. Janssen tauschte einen vielsagenden Blick mit seiner Frau aus, den allerdings Santoni und der ihn anhimmelnde März nicht mitbekamen.

“Ja nun, mein Guter. Wie soll ich Ihnen das erklären? YNN braucht für sein Portfolio eine Line-Extension. Vielleicht sollten wir zu einem kleinen Business-Lunch nach draußen gehen?” Santonis Zunge vollführte einige nervöse Bewegungen, fuhr erst über die untere, dann ein paar Mal über die obere Zahnreihe. “Herr Sanktini, Sie brauchen Geld? Aber wofür denn konkret? Was machen Sie hier? Ich verstehe das alles nicht”, jetzt war es Frau Janssen, die sich einschaltete. “Santoni heiße ich!” Endlich bemerkte auch Manfred langsam, dass hier etwas in Schieflage geriet: “Franka…!” Es klang wie ein Befreiungsschrei. “Na endlich kommen Sie mit dem Kaffee, stellen Sie ihn bitte hier, äh, auf meinen Schreibtisch” Franka tat wie ihr geheißen, machte aber keine Anstalten zu gehen.

“Und wer sind Sie?”, die Stimme von Herrn Janssen klang etwas belegt. “Ich bin Frau Kruse und diejenige, die Ihnen erst einmal ein paar Stühle bringt, Herr Dr. Janssen”. Sie warf Santoni einen freundlichen Blick zu, griff sich dann einfach die nächstbesten Stühle und stellte sie den Janssens hin. Santoni bekam keinen. “Oh, das ist aber aufmerksam”, bedankte sich Mareike Janssen und man sah ihr an, dass sie froh war, endlich Platz zu nehmen. Auch die anderen setzten sich. Manfred März sah zu Franka und es war ein Blick der irgendwo zwischen “Bitte-ziehen-Sie-sich-zurück und Bleiben-Sie-bloß-hier” lag. Und da Frau Janssen sie noch immer anschaute, übersah Franka den Gesichtsausdruck von Santoni, als er einen Stuhl organisierte. “Frau Kruse”, knüpfte Mareike Janssen an, “können Sie mir nicht eben schnell erklären, was YNN macht?” Dann drehte sie sich zu Santoni: “Und Sie, werter Herr. Könnten Sie bitte das Fenster öffnen, die Luft ist hier etwas abgestanden…”.

Es dauerte keine fünf Minuten und Franka hatte den Janssens erklärt, wie das Angebot von YNN aussehen würde: Das erste wirklich interaktive Web TV-Vollprogramm mit Themen, wie sie die Zuschauer interessieren. Ein Programm, das sie mitgestalten und weiterentwickeln konnten. Sie erzählte von der Runde damals in James´ Küche, wobei sie zu James hinüber winkte. Sie erzählte von Walter Freses Lottogewinn und dem unerschütterlichen Einsatz des ganzen Teams. Sie erklärte ihr, warum der Tag heute so wichtig war und alle so nervös. Und mit jedem Satz wurde sie sicherer, stieg eine Kraft in ihr auf, die sie noch gar nicht kannte. Sie war sogar regelrecht euphorisch.
Langsam hellten sich die Gesichter der Janssens auf und sie blieben sogar noch auf eine zweite Tasse Kaffee. Sie fragten nach und lächelten sogar einige Male. Santoni nickte mit einem gequälten Blick mal in die eine, mal in die andere Richtung. Irgendwann unterbrach Franka die angeregte Unterhaltung: “Und das hier ist Anabel, meine Tochter”. Die Kleine war unterdessen aufgewacht, stand vor ihrem Tisch und rieb sich die noch müden Augen. Anabel schüttelte den Janssens brav die Hand und kletterte dann auf Frankas Schoss.

Ein paar Minuten später waren sie gegangen. “Wir können nichts versprechen…” sagte Dr. Janssen, als Ricardo Santoni ihm überschwänglich die Hand schüttelte.
Doch in dem Moment, als die Fahrstuhltür sich hinter ihnen geschlossen hatte, hörte Santoni auf zu grinsen und trat ganz dicht an Franka heran: “Tun Sie das nie, nie, nie wieder, meine Liebe!” Doch Franka zeigte sich nicht im entferntesten beeindruckt. Keck sah sie ihm in die Augen: “Sonst passiert was bitte, Herr Sanktini?”

 

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