DIE KERNFORSCHER

Portrait: James Bridge Kapitel 4: Die Entscheidung 4. Februar 2014

James ging zu seinem Schreibtisch und schaltete die kleine Stehlampe an. Sie war nicht so grell und unpersönlich wie die Leuchtstoffröhren an der Decke. Dann nahm er die Schutzhülle mit den Klamotten, die er vorhin achtlos auf den Bürostuhl geworfen hatte, und hängte sie an den Garderobenständer. Seufzend ließ er sich in seinen Drehstuhl fallen. Sein Raum war kaum größer als sein Schreibtisch, aber der war immerhin recht beachtlich. Drei der Wände bedeckten hohe Regale, vollgestopft mit Büchern, Zeitschriften, Ablagekörben und sämtlichen Ausgaben des „Zuchtstier“ der letzten Jahre.

Die einzige freie Wand war – passend zur weinroten Ledercouch – in dunklem Rot gestrichen. Ein großes Gemälde mit einem schnaubenden Stier hing in der Mitte und imponierte jedem, der zum ersten Mal James Büro betrat. Auf dem Schreibtisch befand sich nur ein einziger Ablagekorb, in dem James seine Tagesarbeit sammelte. Alle anderen Unterlagen lagerte er bei seinen Mitarbeitern und forderte sie, falls benötigt, über das interne EDV-System digital an. Der Computer war das Schmuckstück und wies den einzigen offensichtlichen Luxus auf: einen übergroßen Flachbildschirm sowie zwei stattliche Sound-Boxen. Ansonsten war James ein Leertischler: Wenn er am Abend ging, hatte er seinen Tisch abgearbeitet – andernfalls nahm er die Arbeit mit nach Hause.

8:41 Uhr

Was nun?

Noch bevor James einen klaren Gedanken fassen konnte, steckte Frank Schlechter seinen Kopf durch die Tür: „Störe ich?“
Ohne eine Antwort abzuwarten trat er ein. Freunde dürfen das. Und wenn es in der Redaktion, im Verlag, nein sogar in der ganzen Stadt und der lieben weiten Welt jemanden gab, den James einen Freund hätte nennen mögen, so wäre dies Frank Schlechter gewesen. Hausprokurist, Leidensgenosse und offenes Ohr. Immerhin war er als einziger seiner Kollegen sogar schon mal bei ihm Zuhause gewesen. Zwar nur ein paar Minuten, um ihn vom Schreibtisch wegzulotsen. Doch man konnte ihre Beziehung durchaus als eine Art Freundschaft bezeichnen.
„ Alles in Ordnung?“ Frank war vor James Schreibtisch getreten und winkte ihm aufmunternd zu, so als müsste er ihn aus einem Jammertal finsterster Gedanken heraus lotsen.

„Wie bitte?“, fragte James tatsächlich etwas geistesabwesend.
„Ob alles in Ordnung ist…“, setzte Frank nach.
„Ich…“, begann James und zum ersten Mal spürte er einen Kloß im Hals. Seine Kehle fühlte sich kratzig an und die Worte kamen ihm nur zögerlich über die Lippen: „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Er schaute zu Frank herüber. Wie immer sah er wie aus dem Ei gepellt aus. Er war einer der Typen, die stets das Richtige taten und sagten. Die in jeder Situation aussahen, als würde sie nichts im Leben wirklich überraschen. Wie ein Mensch, dem man sich anvertrauen kann.
„Bella ist weg. Aber es gibt noch so viel zu tun. März macht Druck. Die Präsentation…“, James ließ entmutigt den Kopf in beide Hände sinken.

„Spinnst Du?“, Frank schien tatsächlich entrüstet: „Was redest Du denn da? Mensch, Dein Hund ist weg! Und Du sitzt hier noch herum?“ Frank zuckte so sehr mit den Achseln, dass sein cremefarbener Anzug an den Schultern zwei leichte Falten warf. „Mach Dich sofort auf den Weg. Du weißt doch gar nicht, wo sie jetzt steckt. Vielleicht geht es um Minuten? Vielleicht irrt sie da draußen herum und ist vollkommen überfordert. Du kennst doch die Menschen. Meinst Du wirklich, dass die sich für Bella interessieren? Im besten Fall ignorieren sie sie – im schlimmsten… Aber daran wollen wir gar nicht erst denken. Mein Rat: Nimm die Beine in die Hand. Mit etwas Glück bist Du in einer Stunde wieder hier“, und wie um die Dringlichkeit seiner Empfehlung zu unterstreichen, klopfte Schlechter bei jedem Wort einmal auf James Schreibtisch.

James Augen wurden angesichts all der Gefahren, denen Bella ausgesetzt sein könnte, ganz feucht. Und so versuchte es Frank mit Wohlwollen und Zuversicht: „Oder soll ich für Dich los? Auf mich können die hier eher verzichten…“, schlug er aufmunternd lächelnd vor. James schüttelte den Kopf, die Lippen fest aufeinander gepresst. Er riss die Augen auf und versuchte nicht zu blinzeln. Tränen waren nicht so seine Sache – und schon gar nicht hier im Büro. Ihm schoss das Bild von der Lunch-Box mit den Tiermotiven durch den Kopf.

„Nein… Es geht schon. Ich schaff das. Ich muss nur kurz nachdenken. Vielen Dank Frank. Aber bitte lass mich kurz allein“, James rang sich ebenfalls ein Lächeln ab – auch wenn dieses weniger für seinen Freund gedacht war, als zu seiner eigenen Beruhigung. Und Frank zeigte sich als Freund, machte auf den Hacken kehrt und ließ James wissen: „Du weißt: Ich bin immer für Dich da!“

8:52 Uhr

Endlich war James wieder allein. Der Raum schien sich zu drehen. „Shit!“ entfuhr es James. „Ein verdammter Shit ist das. Bella, was machst Du mit mir? An jedem Tag hätte es besser gepasst. Aber gerade heute…“, er spürte, wie sich aus der ersten Ohnmacht Wut entwickelte. Doch grollend herumzusitzen und seine Situation zu beklagen, brachte ihn nicht weiter – und Bella noch weniger. Er musste handeln.

Fast intuitiv wühlte James in seiner Ledertasche und kramte sein Notizbuch hervor. Wenn er Probleme lösen musste, wichtige Gedanken in seinem Kopf bewegte, an Konzepten arbeitete oder seiner Kreativität freien Lauf lassen wollte, skribbelte er alles in eines seiner kleinen Notizbücher. Als Journalist – der er ja irgendwie und irgendwo noch war – hatte er das natürliche Bedürfnis, seine Ideen zu Papier zu bringen. Und als visueller Menschen zeichnete James die Dinge, die ihn gerade beschäftigten, am liebsten auf. Zu schreiben, zu kritzeln und zu skribbeln half ihm – nicht immer, aber meistens – eine klare Sicht auf die Dinge zu bekommen. Also nahm James seinen Block zur Hand und fing an, seine Gedanken zu ordnen.

Ein paar Minuten und Notizen später griff er zum Hörer der Telefonanlage: „Frau Kruse?“
„Am Apparat…“
„Es ist soweit. Ich weiß jetzt wie es weitergeht. Bitte rufen Sie das Team zusammen. Wir treffen uns in fünf Minuten im Konferenzraum“, James schaute sich suchend noch einmal in seinem Büro um. Doch das einzige, was er mitnahm, war die verwaiste Hundeleine, sein Notizbuch und zwei bunte Stifte.

James war einer jener typischen Zweitbänkler. Jemand, der bei großen Geschäftsveranstaltungen lieber mal sein Namensschild in der Hosentasche verschwinden ließ, und sich dann eine geschlagene Stunde hinter einem vierseitigen Prospekt versteckte. Wenn es etwas gab, was James noch weniger mochte als Smalltalk, dann waren das Ansprachen oder andere Situationen, in denen er den Leithammel spielen musste. Nein, viel lieber arbeitete er zurückgezogen hinter seinem aufgeräumten Schreibtisch. Dabei machte er seine Sache gut: Wenn März oder Kruse zur Tür hereinschauten, um ihn mal wieder mit ein „klein wenig“ Extraarbeit zu behelligen, gab er kein Murren oder Knurren von sich. Hauptsache, er konnte seine Arbeit alleine erledigen.

Doch die Zeiten der Muße waren vorbei. Definitiv. Spätestens seitdem die Konzernmutter Muqin hao die Bühne betreten und alle Karten neu gemischt hatte, war Verantwortung gefragt. Als Chef vom Dienst stand er zwar nicht so sehr im Sperrfeuer wie andere (die Kollegen aus der Personalabteilung schauten ihm beim Grüßen noch immer fest in die Augen – was ein gutes Zeichen war). Doch der Druck war überall spürbar gestiegen. Und so hatte James getan, was wohl jeder in seiner Lage getan hätte: Er hatte sich darauf besonnen, dass Flucht nun mal keine ernsthafte Option war. Er konnte sich ja schlecht in den vier Wänden seines Büros vergraben. Dafür sorgte die „Mutter“, verlangte sie doch permanent neue Statusmeldungen, Berichte, Einschätzungen, Kennzahlen, Quartals-, Monats-, Tages- und bestimmt demnächst sogar noch Minutenzahlen von der Belegschaft. James wurde ganz mulmig, als er an den Nachmittag dachte. Er hatte sich generalstabsmäßig vorbereitet. Doch nun war alles dahin.

9:04 Uhr

James erreichte den Konferenzraum gerade in dem Moment, als Kevin Schmidt aus dem anderen Bürogang einbog. Unter dem Arm einen stattlichen Stapel roter Dokumentenmappen, auf denen ein breitbeiniger, angriffslustiger Stier mit gesenkten Hörnern aufgedruckt war – das Logo des „Zuchtstier“. Beide hatten ein so hohes Tempo, dass sie fast zusammengestoßen wären. „Bridge!“ rief ihm der junge Kollege mit aufgesetzt wirkender Dynamik in der Stimme zu – ohne den Blick auch nur einmal von seinem Tablet zu heben.

„Schmidt…“, gab James im gleichen, gespielt schwungvollen Tonfall zurück. „Geben Sie mir noch ein paar Minuten. Ich muss noch schnell etwas vorbereiten… Sagen Sie das bitte auch den anderen. Ich hole Sie dann gleich rein“, und schon war James an Schmidt vorbei in den Konferenzraum gerauscht und hatte die große, dunkelrote, blickdichte Glastür schwungvoll hinter sich ins Schloss donnern lassen. „Sie machen es aber spannend, Mister“, gab Kevin Schmidt am iPad fingernd zurück – doch James hörte ihn nicht mehr.

Der Konferenzraum war das Schmuckstück des Verlages. Er war groß genug, um eine Schulklasse unterzubringen. In der Mitte stand ein imposanter Tisch (repräsentative Echtholzserie, bootsförmig, mit Edelstahl-Tellerfüssen), der Platz für zwanzig Personen bot. Für den Nachmittag hatte man bereits einige exotische Früchte besorgt und in großen Schalen arrangiert. Was für‘s Auge eben. An der Stirnseite, hinter dem Platz auf dem Manfred März zu sitzen pflegte, hing ein gigantischer Flachbildschirm an der Wand. Kaum genutzt, aber für Tage wie heute ideal.
James bemerkte plötzlich, dass er zu Atmen vergessen hatte und holte tief Luft, als es an der Konferenztür klopfte. „Ja?“, rief er ungeduldig. Immer diese Störungen. Doch diesmal war es sein Glück – Franka Kruse steckte ihren Kopf hinein.

„Mister, ist alles in Ordnung? Gerade war Ihr Musterschüler Kevin Schmidt bei mir, um mir zu signalisieren, dass weder seine arbeitswütige Ungeduld noch das heute anstehende Arbeitspensum einen weiteren Aufschub zulassen… er scharrt bereits mit den Hufen!“, erklärte sie augenzwinkernd während sie eintrat und die Tür hinter sich schloss.
„Kruse, gut dass Sie da sind“, James sprang auf und lief um den Tisch herum auf Franka Kruse zu. Sachte fasste er sie am Oberarm und zog sie zu seinem Notizbuch herüber. „Kruse, ich habe einen Plan, den ich dringend mit Ihnen besprechen muss…“, begann er – und dann purzelten alle seine Sorgen und Nöte nur so aus ihm heraus: Wie Manfred März ihn unter Druck gesetzt hatte. Aber dass er sich dennoch entschieden hatte, nach Bella zu suchen. Und wie er nun vor der nicht gerade geringen Herausforderung stand, alle Aufgaben so zu delegieren, dass er den Rücken möglichst frei für seine Suche hatte.

„Sie haben selbst gesagt, was für uns auf dem Spiel steht, Kruse“, verfiel James nun in einen konspirativen Flüsterton. Ein einsamer Schweißtropfen lief über seine Stirn, an der linken Augenbraue vorbei, die Wange hinunter und verlor sich in seinem Hemdkragen. „Bis heute Nachmittag muss die Präsentation fertig sein! Uns fehlen noch die Zahlen von Kevin Schmidt. Dann die Trendprognosen von Frank Schlechter. Die Textredaktion muss alle Texte unbedingt noch mal Korrektur lesen – und die Grafik ist mit den Animationen noch nicht ganz durch…“ James hielt inne und schnaufte so ähnlich wie der Zuchtstier aus dem Werbefilm, den sie letztes Jahr gedreht hatten.

„Kurz und gut: Kruse, Sie sind die Einzige, die das Ganze stemmen kann! Sie müssen uns… äh, nun ja, mich retten. Kann ich auf Ihre Hilfe zählen?“ James hätte alles dafür gegeben, ihre Gedanken lesen zu können.
Das erste Mal, seitdem sie sich kannten, sah Franka Kruse hektische rote Flecke auf James Gesicht. Doch derer bedurfte es gar nicht, um sie zu überzeugen. „Ja, klar Mister. Natürlich. Ist doch Ehrensache!“ beeilte sie sich, ihn zu beruhigen. Sie hatte ihn noch nie in einer so aufgelösten Verfassung erlebt. Normalerweise hatte er sich als guter Brite ja immer im Griff. Normalerweise…

James hatte ein paar Seiten aus seinem Notizbuch gerissen, ihr – zusammen mit einem verschwörerischen und zugleich unsicheren Zwinkern – in die Hand gedrückt und das Ganze mit einem etwas theatralischen „Es ist für uns alle!“ unterstrichen. Und sie, eigentlich nie um eine süffisante Bemerkung verlegen, hatte das Papier schweigend entgegen genommen und war ohne einen weiteren Kommentar zur Tür gegangen, um die Belegschaft zum Meeting zusammenzutrommeln: „Kollegen – bis auf Weiteres vertrete ich den Mister. Bitte mir nach, ich werde gleich alles erklären“, verschaffte sie sich bei der gespannt wartenden Menge Gehör.

Alle folgten ihr neugierig in ihr Büro – alle, bis auf Kevin Schmidt: „Frau Kruse, ich hab da noch die Präsentation in 3D…“, wedelte er mit einer roten DVD hinter ihr her. Doch Franka machte nur eine Handbewegung, als würde sie eine lästige Fliege vertreiben: „Später, Schmidt, später“, nahm sie ihm den Wind aus seinen ehrgeizig aufgeblähten Segeln. Kevin Schmidt schaute einen Moment ziemlich verdutzt, dann lief er den anderen hinterher.

9:13 Uhr

Als alle weg waren, verließ James eilig die Redaktion. Kurz überlegte er, ob er auf den Fahrstuhl warten sollte. Doch mit einem Blick auf die Leuchtanzeige entschied er sich dagegen. „Viel zu langsam!“ rief er der geschlossenen Fahrstuhltür zu, rannte zum Treppenhaus und eilte alle fünf Stockwerke nach unten. Das heißt, er flog mehr, als dass er die Stufen berührte. In der kleinen Eingangshalle des Verlages angekommen stemmte er sich keuchend gegen die Verlagstür und trat in den eisigen Januarregen hinaus.

 

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