DIE KERNFORSCHER

Manfred hat Vertrauen Kapitel 1: Aller guten Dinge 9. Februar 2016

8:00 Uhr morgens. Manfred saß auf seinem Rennrad und bog gerade vom Grasredder in den Dreieichenweg ein. Er schnaufte. Immerhin hatte er schon ein umfangreiches Sportprogramm absolviert. Noch ein paar Minuten und er war zuhause. Ein kurzer Blick auf seine Pulsuhr zeigte, dass er einen Tick zu spät war. Deshalb stieg er noch etwas kräftiger in die Pedale. Fast wäre er auf einigen Blättern ausgerutscht. Den Weg vom Billeufer bis vor die Haustür schaffte er gewöhnlich locker in 20 Minuten. Doch heute steckte ihm seine frühmorgendliche Rudertour irgendwie in den Knochen.

Manfred erreichte das kleine, weiß verputzte Haus mit den grünen Fenstern in der Hermann-Distel Straße. Er bremste und ging, sein altes Fahrrad geschultert, am Vorgarten mit den weiß-roten Dahlien vorbei, Richtung Vordereingang. Langsam ging die Sonne auf. Das Haus war innen hell beleuchtet. Er sah, wie sich im oberen Stockwerk an einem Fenster die Gardinen bewegten. Ein gutes Zeichen, dass die Twins auf ihn gewartet hatten. Freitags mussten sie immer erst zur zweiten Stunde zur Schule. Das gab ihm die Möglichkeit, noch etwas Zeit mit ihnen zu verbringen.

Manfred stieg die kleine Treppe zum Eingang hinauf. Mit einer Hand fingerte er seinen Schlüssel hervor, mit der anderen versuchte er den Sturzhelm zu lösen. Als er aufschloß, wäre er fast mit Julian zusammengestoßen. Der Teenager mit dem langen Seitenscheitel und dem kahl rasierten Nacken stürmte gerade die Treppe hinunter und zog sich gleichzeitig eine Windjacke über den Kopf. “Hi Dad”, kam es gähnend unter dem Stoff hervor. “Guten Morgen, Julian. Und, hast Du wieder die ganze Nacht durchgezockt?”, fragte Manfred, während er sein Fahrrad im Flur an die Wand lehnte und den Helm im Garderobenregal verstaute. “Ich doch nicht”, kam es zurück. Julian, der ihn um einen halben Kopf überragte, ging an ihm vorbei Richtung Küche. “Was ist mit Deinem Bruder?”, fragte Manfred nach. “Kommt gleich…”, antwortete Julian genervt.

Manfred folgte ihm in die Küche. Obwohl es draußen recht warm war, hatte Ginger geheizt. Sie fror schnell, lief aber gern im dünnen Hausanzug herum. “Hallo mein Schatz”, begrüßte sie ihn. “Und? Wird es heute was mit dem gemeinsamen Frühstück?”, fragte er, an Julian gewandt. “Dad!”, kam es vorwurfsvoll zurück. “Was denn?”, fragte Manfred so vorsichtig wie möglich. “Du weißt doch, dass die Schule um 8:30 Uhr beginnt. Und wir haben Mathe bei Peinlich…”, erklärte Julian. “Treinlich heißt er, Jul”, korrigierte ihn Ginger, damit beschäftigt, noch einige Frühstücksutensilien auf dem Tisch zu platzieren. “Is ja gut, Mom. Weiß ich doch. Aber peinlich ist er auch. Ich könnte Dir Sachen erzählen…” “Die will ich gar nicht hören.”

Ginger schaute zur Küchenuhr über dem Eingang: “Es ist gerade mal acht nach acht. Zehn Minuten werdet Ihr wohl noch erübrigen können. Ihr wisst genau, dass Euer Vater heute einen wichtigen Tag hat”, erwiderte sie. Sie mischte der Feststellung einen leicht vorwurfsvollen Unterton bei. “Mal wieder…”, sagte Julian und setzte sich mit Jacke an den Tisch: “Schon gut, aber nur fünf Minuten”, maulte er. “Julian!”, Ginger ließ die Augenbrauen zur Decke wandern. “Mama!” schüttelte Julian den Kopf und zog dann aber doch seine Jacke wieder aus. “Was ist jetzt mit Deinem Bruder?”, wollte Manfred wissen. “Was wohl, der trödelt, wie immer”, Julian biss herzhaft in die Brötchenhälfte mit Marmelade, die ihm Ginger hingelegt hatte. “Komm schon“, kam es von oben. Man hörte Getrappel auf der Treppe und dann ein lautes Scheppern.

“So ein Scheiß. Dad! Warum stellst Du denn das olle Rad immer genau in den Flur? Jetzt habe ich mir den Fuß angehauen!”, schimpfte Daniel. Sichtlich erleichtert, dass nichts Schlimmeres geschehen war, versuchte Ginger die Wogen zu glätten. Doch so langsam Daniel auch sonst in allen anderen Dingen war, wenn er erst mal begann sich in Rage zu reden, kannte er so schnell kein Halten mehr. “Der ist bestimmt gebrochen”, untersuchte er seinen Fuß und schaute finster zu Manfred herüber. “Du könntest aber auch etwas aufpassen. Du weißt doch, dass das Fahrrad immer da steht”, brummte Manfred. Doch so schnell gab Daniel nicht auf. Er griff sich seine Käsestulle – ebenfalls von Ginger zubereitet – biss zweimal ab und fuhr beim Kauen fort: “Du miff Deinem dämliffen Sportfimmel. Das iff doch voll daneben. So krank waff Du nun auch nifft.” “Jetzt ist aber Schluss”, fuhr Ginger energisch dazwischen und drohte mit dem Messer, mit dem sie die nächsten Brötchenhälften für die beiden schmierte.

“Dein Vater war sogar sehr krank und es ist ein Segen, dass es ihm heute wieder gut geht. Ich bin so froh, dass er die Sache ernst nimmt und…” “Hallo? Ich bin hier im Raum und wäre dankbar, wenn ihr von mir nicht in der dritten Person sprechen würdet”, bemerkte Manfred und hoffte, seine Bemerkung würde als humorvoller Kommentar angenommen. Doch dem war ganz und gar nicht so. Weder Daniel, noch Ginger schienen sich beruhigen zu wollen. Im Gegenteil. Sie sprang auf und fuhr Daniel noch einmal kräftig an: “Dan. Du entschuldigst Dich sofort bei Deinem Vater, hörst Du?” Ihre Stimme klang schrill. Sie hatte Tränen in den Augen und sogar Daniel spürte wohl, dass er zu weit gegangen war. Er schluckte hinunter und versuchte einzulenken – auf seine Art: “Ach Mom. Was soll das denn jetzt? Musst Du morgens schon so einen Wind machen. Ist doch alles okay – oder Dad?”, versuchte er zu beschwichtigen. Dabei setzte er eine Unschuldsmiene auf und sah hilfesuchend zu Julian rüber. “Guck mich nicht so an. Ich muss jetzt los. Wenn Du…” Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment klingelte Manfreds Telefon. “Ganz schön früh”, stellte Ginger feste und zischte zu den Zwillingen gewandt: “Jetzt macht, dass Ihr los kommt. Und – Daniel?” “Ja Mum?” “Du entschuldigst Dich dann später noch!” “Ach…”, rief Manfred, der sich sein Smartphone geschnappt hatte und schon auf dem Weg in den Flur war, “nicht so wild”.

Das Studio! Er nahm das Gespräch an und ging in sein Arbeitszimmer. “Hallo? Hallo?” hörte er eine Stimme. “Sind Sie es Hell Mälz”, kam es mit einiger Verzögerung. “Ach Sie sind´s, Mingfei, wie geht´s?” “Gut. Keine Zeit, Hell Blidge möchte Sie splechen. Augenblick”, schon war sie aus der Leitung und Manfred hörte kurz die Musik aus der Warteschleife. “Hallo, Manfred?”, tönte dann die überlaute Stimme von James Bridge. Seit er zum Produktionsleiter bei PocketStreamingTV gewählt wurde, lief er ganz schön hochtourig, dachte Manfred. “Was ist denn James? Du hörst Dich aufgeregt an. Ist was passiert?” “Allerdings. Seit zwei Stunden spielt die komplette Technik verrückt. Wir haben schon zweimal die Server neu gestartet. Im Moment sitzen Curtis und Rudy dran, aber Rudy meint, dass das gar nicht gut aussieht. So können wir niemals um 10 Uhr auf Sendung”. James war für den reibungslosen Ablauf des Sendebetriebes zuständig. Von IT hatte er jedoch nicht so viel Ahnung. Kein Wunder, dass er nervös war.

“Ist Dan schon da?”, fragte Manfred. “Ja, er sitzt in der Maske”, antwortete James. “Gut, nicht dass der irgendwo in Hamburg im Stau steht oder so…” Pause. “James, ich will sowieso gleich los. Es ist jetzt Viertel nach acht. Ich muss noch einen Happen essen und mich umziehen. In einer knappen Stunde bin ich da. Reicht das?” Es dauerte eine Weile bis James antwortete: “Wir geben unser Bestes und zur Not können wir natürlich noch den Typen vom Notdienst holen. Ich… ach so ein Shit wieder mal! Das war ja klar…”, rief er. “James, beruhige Dich. Ich komme so schnell ich kann. Wenn Rudi meint, dass Ihr Verstärkung braucht, dann soll er seinen Kumpel anrufen. Wir schaffen das schon. So ein Kleinkram kann uns jetzt nicht aus der Ruhe bringen”, beschwichtigte er. “Du hast gut reden. Na gut, bis gleich. So ein Sh…”, hörte Manfred noch, dann hatte James aufgelegt.

“Was ist denn los? Probleme?”, wollte Ginger wissen, die ihm unbemerkt gefolgt war. “Natürlich. Könntest Du Dir eine Premiere ohne Imponderabilien vorstellen, mein Schatz?”, lächelte er sie liebevoll an. Und er tat es nicht nur, um sie zu beschwichtigen, sondern weil er seit Tagen darauf vorbereitet war, dass kurz vor knapp noch irgendetwas schiefgehen würde. Und er hatte sich fest vorgenommen, diesmal die Ruhe zu bewahren. Nichts war so wichtig wie seine Gesundheit – und seine Familie. “Ich werde einfach dreimal durchatmen und an drei schöne Dinge dabei denken. So wie es in diesem Buch von Dir steht. Das hilft. Garantiert!”, sagte er aufmunternd, ging auf sie zu und nahm sie fest in den Arm. “Übrigens habe ich gehört, dass jede Umarmung die länger als zwanzig Sekunden dauert, Glücksgefühle hervorruft. Also…” Er drückte sie und spürte, dass es gut tat.

“Das ist ja so peinlich”, Daniel war ihnen gefolgt. Hinter ihm stand sein Bruder. Beide waren angezogen und sichtlich unruhig. “Wir müssen jetzt, wirklich”, rief Julian und sie verschwanden. “Ich hab Euch lieb!”, rief Ginger ihnen nach und Manfred wünschte sich insgeheim, das wäre von ihm gekommen. Einige Minuten später, nach einem sehr hastigen Becher mit selbstgemachten Müsli, einer Expressdusche und dem Sprung in den Arbeitsdress stand Manfred wieder auf der Straße. Ginger winkte ihm durch das Küchenfenster hinterher. Die Umarmung hatte geholfen.

8:30 UHR

Manfred startete das Auto. Das Radio sprang an, die Nachrichten liefen. Er legte eine CD ein – Benny Goodman – fuhr nachdenklich seinen gewohnten Weg zur B5, der Autobahn die ihn Richtung Hamburg Innenstadt bringen würde. In rund 45 Minuten würde er in Winterhude ankommen und dann würden sie weitersehen. Wenn er im letzten halben Jahr eines gelernt hatte, dann, dass er Dinge nicht so dramatisch sehen durfte. Ganz gleich was geschah, die Erde würde sich weiter drehen. Und es half niemanden, wenn er sich aufrieb und irgendwann zu gar nichts mehr in der Lage war. Er hatte wirklich großes Glück gehabt mit seinem Magenschwür im Frühling. Es hatte einige Wochen gedauert, bis er sich einigermaßen erholt hatte. Der Chefarzt, der ihn damals im Krankenhaus behandelt hatte, hatte ihn kurz vor der Entlassung beiseite genommen und ihm nur drei Worte gesagt. Drei Worte, die er allerdings sein Lebtag nicht vergessen würde “Jetzt mal halblang…” Und Manfred wusste welche Sorgen und Ängste Ginger ausgestanden hatte.

Seit dem beruflichen Reinfall im März und seinem sprichwörtlichen KO waren sechs Monate vergangen und auch wenn er es niemandem erzählen mochte, es waren die besten Monate seit Jahren gewesen. Zwar waren er und sein Team mit ihrem Unternehmen Your Network News am Tag ihrer Premiere grausam gescheitert – oder vielmehr von einem Mitarbeiter auf übelste Art und Weise hintergangen worden. Doch Manfred war klar geworden, dass es so hatte kommen müssen. Damals, im Frühjahr, war er das reinste Nervenwrack gewesen. Jeder kleine Fehler, jede Störung, jede Verzögerung war ihm wie eine Katastrophe erschienen. Heute musste er den Kopf schütteln, wenn er daran dachte. Er hatte geglaubt, sein Leben wäre in mehr als einer Hinsicht zuende. Doch mit der Rekonvaleszenz des Körpers hatte er auch eine neue Sicht auf die Dinge gewonnen. Oder besser gesagt, er hatte zu dem zurückgefunden, was ihm mit den Jahren abhanden gekommen war: Der Spaß und der Enthusiasmus im Leben, die Liebe zu den Menschen und dem Leben selbst. Das hörte sich so profan an und er hatte es stets abgetan, doch es war existenziell. Er hatte es nur aus den Augen verloren.

Nachdem er, zusammen mit seinem Team, am Anfang des Jahres seinen gut dotierten Job als Geschäftsführer der Zeitschrift Zuchtstier verloren hatte, hatte ihn das mehr mitgenommen, als er es sich zunächst zugestanden hatte. Und als er dann beim Versuch, sich mit seinem Team und einem neuen Konzept selbständig zu machen, so elend gescheitert war, hatte es ihn im wahrsten Sinne des Wortes umgehauen. Job weg. Krankenhaus. Und keine Perspektive. Was sollte er machen? Er konnte seine Beziehungen spielen lassen, doch so einfach war es nun auch nicht, mit 51 Jahren mal eben wieder irgendwo hineinzurutschen und einfach so weiterzumachen, als wenn nichts gewesen wäre.

Manfred fuhr sich übers Kinn. Obwohl Ginger ihn mehr als einmal darauf angesprochen hatte, ob er denn nicht…, hatte er sich einen Bart wachsen lassen. Wann sonst, wenn nicht jetzt? Er trug jetzt die Haare ganz kurz und hatte sich eine neue Brille gekauft. So eine wie die von Malcom X, eine Browline, oben schwarz eingefasst. Und irgendwie stand sie ihm ausgezeichnet. Er hatte sich endlich ein bequemes Jackett besorgt, trug Khaki-Hosen und – das war das Beste – keinen Schlips mehr. Auch wenn er wusste, dass das alles nur Äußerlichkeiten waren, so tat es ihm gut. Das wichtigste aber war: Er befreite sich von allem unnützen Zeug, sowohl bei sich Zuhause, als auch gedanklich. Und er machte Sport. Und zwar richtig viel Sport. Jahrelang hatte er sich die Zeit nicht gegönnt, hatte mit Freizeit und Ablenkung gegeizt und war einer dieser Workaholics geworden, die er selbst eigentlich gar nicht ausstehen konnte. Und mehr noch, er hatte sogar all die Idioten bewundert, die sich ganz ihrer Arbeit verschrieben hatten und nur noch für den Job lebten: “Ich war echt so ein Hornochse!” rief er und lachte.

9:03 UHR

In einer knappen Viertelstunde würde er vor dem neuen Büro stehen. Noch ein Konzept. Noch mal Ungewissheit. Noch mal alles auf eine Karte setzen. Ihm war nicht ganz wohl bei der Sache und in manchen Momenten meldete sich sogar sein nervöser Magen zurück. Doch diesmal dauerte es nie mehr als ein paar Minuten. Und auch wenn er mit dem Haus, seiner Frau, seinen beiden Söhnen, seinem Leben mitten in der Verantwortung stand, so war ihm eins klar. Egal was geschehen mochte, es würde weitergehen. Mochten alle Server ausfallen. Mochten ihre Pläne vereitelt werden. Egal. Er war gesund, ihm ging es gut und sie würden schon einen Weg finden, denn sie waren ein gutes Team.

In einer, vielleicht zwei Stunden würden sie mit ihrem neuen Programm – einem Internet-Live-Streaming-Sender – starten. 24 Stunden Programm. Eine echte Herausforderung. Es hatte wirklich viel Kraft gekostet, das Angebot in nur fünf Monaten auf die Beine zu stellen. Doch jetzt konnte Manfred den anderen etwas zurückgeben und sich für all die Hilfe und den Zuspruch seiner Freunde revanchieren. Er freute sich, als er durch den Torbogen auf den Hinterhof ging und das Efeu bewachsene Backsteingebäude von PocketStreamingTV betragt. Wie sagte man so schön: The next big thing!

 

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2 Kommentare

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    Manfred hat Vertrauen

    Kapitel 1: Aller guten Dinge

    2 Comments

    1. Marianne

      Habe grad Euer neues Kapitel gelesen. Toll geschrieben. Macht Lust auf mehr.
      Klasse den aktuellen Zeitgeist aufgegriffen, so dass man sich angesprochen fühlen kann, wenn man den ersten Ehrgeiz hinter sich hat und jetzt mit Berufserfahrung dahinter kommt, was wirklich im Leben zählt: Leben! Gesundheit! Danach erst der Job!!
      Weiter so!!

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    2. Katrin Klemm

      Hallo Marianne, ja genau darum geht es. Deshalb schauen wir bei Manfred und seinem Team diesmal noch viel stärker auf die großen Themen, die das Leben ausmachen. Und der Job ist halt nur e i n Teil des Ganzen. Wir machen es unseren Helden nicht leicht. Deshalb kann ich versprechen, dass es noch sehr sehr spannend wird.
      Viel Spaß beim Online-Mitlesen.
      Katrin

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    Manfred hat Vertrauen

    Kapitel 1: Aller guten Dinge Februar 9, 2016

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