DIE KERNFORSCHER

Portrait: James Bridge Kapitel 9: Am Ende aller Kraft 18. März 2014

„Und da kann ich wirklich nicht mehr tun?“ James Stimme klang müde und trug einen Hauch von Resignation in sich. „Ich wüsste nicht was. Gucken Sie aus´m Fenster. Wir haben das reinste Chaos in der Stadt. Da geht gar nix mehr. Wir ha´m ja jetzt all Ihre Daten und sobald eine Dienststelle was meldet, rufen wir an. Versprochen!“ Dem geduldigen Beamten am anderen Ende der Leitung war durchaus anzuhören, dass James nicht der erste aufgeregte Fall war, den er heute beruhigen musste. „Wenn das Tier wenigstens gechipt wäre. Dann könnten Sie ihn orten lassen…“, seufzte James. „Hmm. Kann man nicht mehr ändern. Aber ich bin sicher, dass es ihm gut geht. Der wird sich schon wo verkrochen haben. Und ein Gutes hat der Schneesturm ja: Die Autos kommen nich vom Fleck. Überfahren wird den wohl keiner.“ James seufzte noch einmal – doppelt so lang. Er malte sich gerade das Schlimmste aus. „Aber Herr Bridge. Ma keine Sorge. Den findet schon jemand. Sie müssen nur etwas Geduld haben. Alles klar? … Ich muss Schluss machen. Habe noch and´re Kunden zu verarzten. Viel Glück!“

13:15 Uhr

Noch einhundertundfünf Minuten bis zum großen Knall. Und nicht weniger würde das Treffen mit der Delegation werden, so viel war jetzt klar. James war noch über eine Stunde in der Gegend herumgeirrt und hatte die letzten Minuten am Telefon alle erdenklichen Hebel in Bewegung gesetzt. Er hatte Tierheime und Tierschutzorganisationen angerufen sowie die Notruf-Hotline von Tasso – der Organisation, die vermisste Haustiere per Transponder ortet … nur Bella hatte ja keinen. James hatte mit Freunden gesprochen, dem Tierarzt, alle erdenklichen Seiten im Internet konsultiert und zum Schluss sogar mit der Polizei telefoniert; war jedoch noch keinen Schritt weiter. Er marterte sich mit Vorwürfen, dass er Bella noch nicht einmal ein GPS-Halsband gegönnt hatte. Zum Glück hatte sie seine Telefonnummern dabei: Handy und Festnetz. Sollte sie also irgendwo aufgegriffen werden, so würde man ihn auch erreichen können. Doch bis jetzt war das nicht der Fall. Außerdem musste er los, musste wieder in den Verlag. Und er hatte rein gar nichts mit dem Team vorbereitet. Der Horror dieses Tages umfing ihn wie der eisige Schnee die Stadt.

Einen kurzen Augenblick dachte James daran, dass er noch nichts gegessen hatte. Flau und geschwächt ging er in die Küche. Doch sofort überkam ihn sein schlechtes Gewissen: Sollte er sich hier tatsächlich wonnige Leckereien gönnen, während sein alter Hund da draußen allen nur erdenklichen Gefahren ausgesetzt war? Auf keinen Fall! James schaute zum Fenster heraus: Noch immer fielen die Flocken dicht an dicht und wurden vom Wind gegen die Scheibe gepustet. Beim Anblick fröstelte ihn. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Wohnung gar nicht geheizt war. Kein Wunder, die Zeitschaltuhr würde erst einige Stunden später anfangen die Räume vorzuheizen.

„Eine Jacke!“ James war immer noch so, wie er das Büro verlassen hatte: Viel zu dünn bekleidet. Er ging zur Garderobe, um sich eine dicke Daunenjacke zu holen. Da fiel sein Blick auf sein Smartphone. In der ganzen Aufregung waren ihm wohl einige Anrufe entgangen. Manfred März: Drei Mal. Franka Kruse: Vier Mal, plus zwei SMS. Frank Schlechter und Kevin Schmidt jeweils ein Anruf und… seine Mutter, sage und schreibe acht Nachrichten und eine bedrohliche Menge von SMS: Dreiundzwanzig! James seufzte. Mary musste was gespürt haben, denn das war ihr Allzeitrekord. Doch er hatte jetzt nicht die Nerven auch nur einen der Anrufe zu beantworten. Das würde er gleich in der Bahn machen – wenn die überhaupt fuhr…

James tauschte seine leichten Herrenschuhe gegen ein paar robuste Stiefel, zog sich die Jacke an und griff nach einem Schal. Seine Wollmütze konnte er in der Eile nicht finden. Dick eingemummelt und mit einem letzten Seufzer schloss er hinter sich die Haustür. Sollte er vielleicht Zettel schreiben und an Bäumen anbringen? Er schaute auf seine Armbanduhr:

13:23 Uhr

„Shit!“ Keine Zeit. Schnell rannte er die Treppen nach unten und wäre vor der Tür fast mit seiner Mutter zusammengestoßen. „Wusste ich´s doch. Was machst Du hier?“, fragte sie, nachdem sich beide vom Fastzusammenprall erholt hatten. Mary war wenigstens genauso dick verpackt wie er. Wenngleich ihre derzeitige Vorliebe für die Farbe Rosa sie so aussehen ließ, wie ein riesiges Stück greller Zuckerwatte auf zwei Beinen. James schaute gequält. Das war nicht das, was er gerade brauchte: „Ich, äh, habe nur was geholt“, versuchte er die Situation zu umschiffen. Doch wenn James eines nicht konnte, dann war das lügen. Und Mary kannte ihren Sohn viel zu gut, als sich so einfach abspeisen zu lassen. „Das kannst Du Deinen Leuten im Verlag erzählen, aber nicht mir. Ich habe Dich was gefragt. Was soll das hier?“

James konnte förmlich seine innere Uhr ticken hören. Würde er seiner Mutter die ganze Geschichte erzählen, würde er sie die nächste halbe Stunde nicht los. Doch noch während er überlegte, wie er seine Mutter loswerden konnte, kam es auch schon: „Musst Du nicht im Verlag sein und diese Präsentation vorbereiten? Und wo hast Du Bella gelassen?“ James fühlte sich ertappt. „Mum, ich kann jetzt nicht. Hab‘ wirklich keine Zeit. Ich erkläre Dir alles später. Ist wirklich lieb, dass Du vorbei kommst…“, Mary machte ein verächtliche Bewegung mit Ihren Händen, die sich irgendwo über ihrer rosa Bommelmütze verlor. „Wir hatten abgemacht, dass Du Dich meldest. Ich habe gewartet! Hab´ versucht, Dich zu erreichen! Ich wusste, dass da was nicht stimmt. Eine Mutter spürt so etwas…“. „Aber Mum, über zwanzig SMS! Du kannst Dir doch denken, dass ich keine Zeit habe, wenn ich nicht reagiere!“ James fühlte sich mal wieder wie ein kleiner Junge, der einfach nichts zu melden hat, wenn die Mutter dran war. Und sie hatte dazu keine zwei Minuten gebraucht…

Während seine Mutter ihn wie gewohnt liebevoll zusammenfaltete, regte sich in James mit einem Mal ein neues Gefühl. Es entsprang der Verzweiflung, der gebotenen Eile und dem aus beidem resultierenden Aufbäumen. Sonst immer. Gern. Nur heute nicht. Heute hatte er keine Zeit für das gewohnte Spielchen. Keine Zeit und auch keine Kraft eine neue Front aufzumachen. Heute war die Lage zu ernst. Wie durch einen Filter sah er seine Mutter und es war ihm, als stünden sie nicht auf derselben Bühne in derselben Szene. Wenn James vom Tage retten wollte, was noch zu retten war; wenn er Bella finden und irgendwie rechtzeitig in den Verlag gelangen wollte, dann musste er jetzt los. Nur langsam drang James wieder in den gegenwärtigen Moment ein, er hörte gerade noch die letzten Worte von Marys Standpauke: „…es ist eine Frage des guten Stils wie Du mit Deiner Mutter umgehst. Wenn Du Dich an Deinen Vater erinnerst, dann wirst Du wissen…“

Es klingelte. Kurz darauf tauchte aus dem Schneegestöber ein Fahrrad auf, auf dem – wackelig und unsicher – ein junges Mädchen saß. Am Lenker einige Plastiktüten. Sie klingelte noch ein paar mal, während sie sich an den beiden vorbei drängelte: „Tschuldigung, muss mal durch“. Das Klingeln sorgte nicht nur für eine willkommene Unterbrechung von Marys Redeschwall, es förderte in James auch plötzlich eine Einsicht hervor: „Stop! Stop! Stop! Mum!“ schrie er seine Mutter an, wobei der Schnee seiner Stimme so einiges an Lautstärke nahm. Mary hielt verdutzt inne und starrte ihn an. „Stopp sage ich! Jetzt hörst Du mir zu!“ James baute sich vor ihr auf. „Sei mir nicht böse. Du meinst es nur gut, das weiß ich. Aber ich habe jetzt in diesem Moment keine Zeit dafür. Bella ist weggelaufen und wenn ich nicht sofort etwas tue, dann finde ich sie nie wieder! Gleichzeitig wartet die Redaktion auf mich, Herr März und die anderen. Die Chinesen sind womöglich schon gelandet und ich muss ihnen ein Konzept präsentieren, dass uns allen den Arsch retten soll. Ich muss los! Und ich muss das alleine tun!! Wenn Du helfen willst, dann geh nach Hause oder nach oben und warte, ob sich ein Finder meldet. Aber im Moment kannst Du nichts anderes machen!“, wütend funkelten seine Augen.

„Aber, James – bist Du von Sinnen, wie redest…“, Mary war zwar überrumpelt von James ungewöhnlichem Widerstand, doch so leicht ließ sie sich nicht abweisen. „…Du mit mir?“, unterbrach James sie. „Ich hätte das hier schon vor langer Zeit sagen sollen: Mum, ich liebe Dich, aber Du kannst nicht mehr alles für mich regeln. Ich bin 38, Mum. Ich weiß selbst was zu tun ist!“ Als Mary sah, dass er es ernst meinte und ihr das Ruder aus den Händen zu gleiten drohte, setzte sie ihren fast hysterischen Befehlston auf: „What a nonsense, my dear. Listen to your mother…“, sie packte James an den Oberarmen und schüttelte ihn ein bisschen. „Nein, Mum! Dafür ist keine Zeit. Tue was ich Dir sage oder lass es. Aber ich muss nun los,“ und dann tat James etwas, was er schon lange nicht mehr getan hatte: Behutsam machte er seine Arme frei und gab seiner nun vollends verwirrten Mutter einen Kuss auf die Wange – einen von der Sorte, die jedes Mutterherz erweichen ließ und auch Mary verstummte sofort. Er ignorierte die kleine Träne, die aus ihrem linken Auge quoll, und stapfte los: „Wünsch mir Glück, Mum“, rief er ihr über die Schulter hinweg zu. „Good luck, my Dear. Good luck“, schluchzte Mary hinter ihm her.

 13:31 Uhr

James erreichte den Bahnhof Lattenkamp und hatte Glück: Eine Bahn stand wie für ihn bereit. Er schaffte es gerade noch durch das Gedränge hinein, bevor sie losfuhr. Endlich klappte mal was! Irgendwie fühlte er sich trotz der Misere mit Mary besser als zuvor. Frei und erleichtert. Doch lange hielt dieses Gefühl nicht an. Nur ein paar Minuten später, als er an der Haltestelle Kellinghusenstraße die Bahnlinie wechseln wollte, war Schluss: „Der nächste Zug in Richtung Wandsbek-Gartenstadt ist leider verspätet. Bitte beachten Sie die Anzeige am Bahnsteig“, gab eine Stimme aus den Lautsprechern bekannt. James sah sich um. Er konnte den Bahnsteig vor lauter Menschen nicht sehen. Neben ihm stand ein junges Pärchen, eng umschlungen, das sich von all dem Durcheinander offensichtlich nicht beeindrucken ließ. Jeder der beiden hatte das Ende eines Kopfhörers im Ohr.

Eine gute Gelegenheit sich im Verlag zu melden. James schickte zuerst Manfred März eine Mail, was mit klammen Fingern gar nicht so einfach war. Die Handschuhe hatte er dummerweise vergessen. „Hallo Herr März, bin schlecht erreichbar, aber bereits auf dem Rückweg in den Verlag! James Bridge.“ Dann schrieb er Frank Schlechter eine SMS: „Frank, komme gleich. Bitte behalte Kevin Schmidt im Auge, der hat die letzten Tage einen komischen Eindruck gemacht.“ Prompt kam eine SMS zurück: „Mach ich. Wir reden gleich. Hast Du sie?“ James konnte noch ein „Nein 🙁 !“ zurück-simsen, da kam endlich die Bahn. Er ließ sich von der Menschenmenge in das Abteil schwemmen, froh, dass es irgendwie weiterging. Das Pärchen stand direkt neben ihm.

Dann rief er Franka an. Es dauerte etwas, bis sie abnahm: „Franka?“ „Ja? Hallo? Sind Sie es James?“ „Ja. Wie ist der Stand der Dinge?“ James hörte, dass Franka Kruse nicht allein war. Irgendjemand sprach im Hintergrund. Chinesisch! „Was ist bei Ihnen los?“ „Gut, dass Sie sich melden, James.“ Ihre Stimme klang irgendwie anders. So offiziell. „Ich sitze mit den Herren Cheng, Ni und Zhang im Taxi. Wir fahren zum Hotel. Wir freuen uns schon alle auf Sie.“ James merkte, dass etwas nicht stimmte. „Ich bin für Frau Schneider eingesprungen. Wir haben umdisponiert. Ich werde die Delegation gleich mitbringen. Bereiten Sie alles vor, James? Wir sehen uns um 15 Uhr. Vielleicht sollten Sie Herrn März noch mal kurz verständigen. Er freut sich auch schon sehr auf Sie… Was macht, äh, Ihre Sache?“ James hatte begriffen. Mehr würde er im Moment von Franka Kruse nicht erfahren.

„Der Hund ist noch immer weg. Ich habe jetzt die ganze Zeit gesucht, habe alle verständigt, die mir einfielen. Aber keine Spur. Jetzt fahre ich wieder in den Verlag.“ James versuchte seine Stimme ruhig wirken zu lassen und nur wer ihn kannte bemerkte, dass er mit seinen Nerven am Ende war. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Die Polizei sagt, dass sie sich meldet, wenn der Hund auftaucht. Ich kann nur noch warten.“ James versuchte sich in der wackelnden U-Bahn aufrecht zu halten. Er schwitzte. „Ach James, das hört sich aber gut an“, versuchte Franka vorgetäuschten Optimismus zu verbreiten. „Sehr gut. Damit haben Sie alles getan, was wichtig ist. Da wird der Erfolg nicht lange auf sich warten lassen! Also, wir sehen uns.“ James steckte das Smartphone weg, als er spürte, dass ihn jemand an der Schulter berührte und nicht mehr los ließ. Er schaute sich um.

Das Mädchen, das gerade noch mit ihrem Freund geschmust hatte – etwa zwanzig, ganz rote Wangen (was nicht unbedingt mit der Kälte zu tun haben musste) – sah ihn neugierig an: „Ihr Hund ist weg?“ fragte sie. „Ja“, gab James zögerlich zurück. „Weggelaufen?“ „Ich weiß nicht“ „Heute?“ Die Neugier des Mädchen wurde ihm langsam unangenehm: „Wieso habt Ihr ihn gesehen?“ Ihr Freund hatte sich ebenfalls seine In-Ear-Kopfhörer aus dem Ohr gezogen: „Ich liebe Hunde!“ grinste er. „Nö, gesehen haben wir ihn nicht. Wie sieht er denn aus?“, wollte das Mädchen nun Kaugummi kauend wissen. James zog sein Smartphone heraus und zeigte den beiden ein Bild von Bella. „Wie süß!“ quietschte das Mädchen etwas affektiert. „Und, schon ‘nen Rundruf gestartet?“ wollte ihr Freund wissen.

„Rundruf? Äh, ja, ich habe die Polizei angerufen, die Tierheime, und…“, James schaute verwirrt auf das Foto von Bella. „Ne, das mein‘ ich nich‘. Hast‘es schon ins Netz gestellt?“, der Junge zog sein Smartphone aus seiner Jeanstasche. „Stimmt!“ jauchzte seine Freundin nun so laut, dass es James langsam peinlich wurde. „Hast Du schon eine Suche auf Facebook gemacht?“ James war verdutzt. „Auf Facebook? Aber was soll denn…“, und noch ehe James wusste, wie ihm geschah, hatte das Mädchen ein Foto von dem Foto auf James Smartphone gemacht und machte sich an ihrer Facebook-App zu schaffen.

„Seit wann is‘ sie denn weg?“, murmelte sie abwesend. „Äh, heute Vormittag“, James spähte zu ihrem Handy hinüber. „Und wo?“, das Mädchen blickte kurz auf. „Das weiß ich nicht. Irgendwo auf der Strecke von Winterhude nach Altona. Keine Ahnung, ich…“, James zuckte mit den Schultern. „Schon gut. Und wo soll‘n sich die Leute melden?“, das Mädchen fummelte weiter auf ihrem Display herum. War das ein Trick und die beiden ein raffiniertes Gaunerpärchen? James zögerte etwas, dann gab er sich einen Ruck: „Sie können mich anrufen!“ James gab ihr seine Handy-Nummer. „So, das wäre geschafft. Ach, eins noch: wie heißt denn der Hund?“, wieder wischte sie auf ihrem Smartphone herum. „Bella“, entgegnete James. „Und Du?“, sie blickte kurz auf. „Ich, äh, James“, brummte James und versuchte sich etwas autoritär zu geben. Nicht, dass die beiden auf dumme Gedanken kamen, nicht dass sie… „So, und los… Ich habe das nun mal gepostet und den Leuten gesagt, sie sollen es teilen“, erklärte ihm das Mädchen ungerührt. „Hab ich schon gemacht“, rief ihr Freund nun und schwang sein Smartphone durch die Luft. „Ja… Danke… Danke! Darauf bin ich gar nicht gekommen“, erst jetzt realisierte James, was die beiden gemacht hatten. „Kein Problem, gern geschehen,“ grinste ihn das Mädchen an.

Sternschanze. Hier musste er raus. „Danke noch mal,“ James drängelte sich zur Tür. „Ach – und wie heißt ihr Beiden?“, wollte James von den beiden Teenagern noch wissen, bevor er zur Tür hinausgeschoben wurde. „Eva“, rief ihm das Mädchen zu. „Ben“, kam es kurz danach von ihrem Freund. Und schon setzten sich die beiden nahezu synchron wieder ihre Kopfhörer auf, als sei nichts gewesen und machten da weiter, wo sie ein paar Stationen vorher aufgehört hatten. „Danke“, rief James. Kurz sah er dem knutschenden Pärchen hinterher, als sich die Türen schlossen und der Zug sich wieder in Bewegung setzte.

Dann eilte er die Treppe zum nächsten Bahnsteig hoch. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Doch das einzige, was er sah, als er die Treppe erklommen hatte, war ein Schild: „Der Zugverkehr ist wegen der derzeitigen Witterungsverhältnisse unterbrochen. Bitte weichen Sie auf andere Fahrgelegenheiten aus: Danke.“ „Auch das noch!“ James fluchte. Doch ihm blieb nun nichts anderes übrig, als den Weg zu Fuß fortzusetzen. Er hetzte die andere Treppe wieder hinunter, am Kiosk vorbei und auf die Straße – oder das, was davon übrig war. Der Schnee hatte mittlerweile alles komplett zugedeckt. Selbst die langsam dahinkriechenden Autos schafften es nicht, das weiße Chaos in schwarzen Matsch zu verwandeln. Ohne Unterlass wirbelten neue Flocken in Massen dazu. Schnee, wohin man schaute. Oder präziser gesagt: Schnee, der einem überall die Sicht nahm. Schnee, der einem von allen Seiten gleichzeitig gegen die Kleidung peitschte. Oder noch genauer: Ein Schneesturm, wie ihn die Stadt seit Jahren nicht mehr erlebt hatte.

Wie ärgerlich, dass er die Wollmütze nicht dabei hatte, dachte James und versuchte die Kapuze enger zusammenzuziehen. Aus seinen Fingern verabschiedete sich langsam jedes Gefühl. Notdürftig blies James etwas Wärme in die geschlossenen Fäuste und vergrub sie dann in den Jackentaschen. Ein Bus stand auf der Straße, das konnte er undeutlich durch das Gestöber sehen. Doch der Wagen kam keinen Meter voran, weil sich ein anderes Fahrzeug davor quergestellt hatte. Der Busfahrer hatte das Fenster heruntergekurbelt und brüllte den ebenfalls schreienden Autofahrer an. Der Schnee dämpfte ihre Stimmen. James Schritte knirschten. Die ganze Welt schien in Watte gepackt. An jedem anderen Tag hätte James die Atmosphäre genossen. Er hätte den träumerischen Gedanken und romantischen Gefühlen freien Lauf gelassen, die oft mit Schnee einhergehen. Doch nicht heute. Heute musste er sich zusammenreißen.

Den Bus konnte er vergessen. Also kämpfte er sich durch‘s Gestöber die Schanzenstraße entlang und auf die Altonaer Straße zu. Vielleicht würde er hier ja ein Taxi finden… Eine tief in ihm sitzende Angst trieb in an. Nagende Schuldgefühle begleiteten ihn. Doch zaghaft erwachte auch ein neuer Mut in ihm. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl von Abenteuer. Womöglich musste er noch durch einen tiefschwarzen Tunnel gehen. Doch nun wusste er, dass es am anderen Ende schon wieder hell werden würde. Und so stapfte er mutig in Richtung Altona davon.

 

 

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Kapitel 9: Am Ende aller Kraft März 18, 2014

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