DIE KERNFORSCHER

Portrait: Kevin Schmidt Kapitel 5: Depp 2.0 6. Januar 2015

Kevin war höchst zufrieden mit seiner Ausbeute. In den letzten Wochen hatte er einige Stunden Videomaterial aufgenommen, für ein “Making off”. Das zumindest erzählte er allen, die danach fragten. In Wirklichkeit verschaffte ihm die laufende Kamera nicht nur die Möglichkeit, sich überall ungefragt und ungehindert aufzuhalten. Das überaus empfindliche Mikro nahm die Geräusche im Raum derart brillant auf, dass er unsichtbar im Hintergrund bleiben konnte, aber alles mitbekam, was vor sich ging. Ganz nebenbei sammelten sich so auf seiner externen Festplatte genügend skurrile, kompromittierende und verblüffend dämliche Aufnahmen, die jetzt ihm gehörten – ihm ganz allein. Man konnte ja nie wissen…

Jetzt saß er an seinem Schreibtisch und schaute sich das Material vom Morgen an: Den hirnlosen Walter Frese, wie er an seinem Tisch saß und den dicken Mann markierte, aber wenn er sich unbeobachtet fühlte, einen ganz ängstlichen Ausdruck in den Augen hatte. Dabei machte er so komische Bewegungen mit der Nase, als wolle er sich alles, was er nicht begreifen konnte, über Gerüche erschließen. Er sah aus wie ein Maulwurf, kurz bevor ihn der Spaten traf, dachte Kevin und lachte dabei in sich hinein, weil er sofort eine Comic-Szene im Kopf hatte. Der Kamera-Zoom war echt genial.

Oder Manfred März, der sich manchmal an den Bauch fasste, als mache ihm der Magen massiv zu schaffen. Immer dieser rote Kopf. Tja, jetzt hatte er kaum noch was zu melden. Selbst Schuld. Er hatte ja nicht auf ihn gehört. Oder der englische Lackaffe, der ihm damals die Show vermasselt hatte. James. Das würde er ihm nie verzeihen. Immer so korrekt. Immer nett. Immer verständnisvoll. Kevin hätte kotzen können. Er hatte einige Aufnahmen von ihm, wo er in sein blödes Notizbuch kritzelte, anstatt zu arbeiten. Wer weiß, ob er die nicht noch brauchen könnte, wenn sich der Wind wieder drehte. Oder Franka, Frau Kruse… die glaubte, alles mit einem knackigen Hintern regeln zu können. Wieso die da war, wusste er immer noch nicht. Eine reine Fehlbesetzung und absolut überflüssige Geldverschwendung. Kevin schüttelte den Kopf, als er die Aufnahmen von ihr sah. Die waren für ein Making off derart ungeeignet, denn sie stand ja immer nur herum und quatschte mit allen, wollte sich wohl unentbehrlich machen.

Kevin spulte Franka vor. “Laber Laber Laber Laber Laber Laber…” zischte er dazu.

Erst bei der neuen Praktikantin machte er Halt und drückte sogar auf Pause. Seitdem er nicht mehr mit Melanie zusammen war, war sein Verhältnis zur Frauenwelt ein wenig, wie soll man sagen, angespannt. Die Sache war noch recht unappetitlich geworden und Kevin hatte sich geschworen, sich jetzt erst mal auf seine Karriere zu konzentrieren. Allerdings hatte es da diesen einen Moment gegeben, als sie auftauchte: Laura. In der letzten Woche. 18 Jahre alt und voller Idealismus. Außerdem sah sie nicht übel aus. Er hatte sie gleich am ersten Tag mit der Kamera geradezu umtänzelt, hatte angedeutet, dass er so etwas wie ein Newcomer-Porträt mit ihr machen wolle. Doch irgendwie war das Ganze dann etwas aus dem Ruder gelaufen. Er wusste auch nicht wieso. Vielleicht war er zu heftig ran gegangen? Auf jeden Fall hatte sie ihn irgendwann mit einem zischenden “Hau ab!” weggeschoben und machte seither einen großen Bogen um ihn. Prüde Schnepfe.

Ganz anders diese Chinesenfrau oder was das war: Pingpong, oder wie die hieß. Kevin hatte den Eindruck, dass sie auf jeder dritten Aufnahme zu sehen war. Andauernd kam sie zu ihm und wollte irgendwas. Und dann diese alberne Art zu sprechen. Konnte die wirklich kein “R” oder war das alles Attitüde? Wie in einem schlechten B-Movie. Kevin war genervt. Je mehr er sich anschaute, desto mehr wuchs die Verachtung für das Team. Mit denen würde das nie was werden. Aber sollte das Projekt doch an die Wand fahren. Irgendwann würden sie zu ihm kommen. Irgendwann. Kevin durchsuchte sein iPhone nach dem passenden Song: “All these things that I´ve done” von den Killers, setzte sich Kopfhörer auf, spulte die Kamera-Aufnahmen weiter und gab hin und wieder gedankenverloren einen bösen Kommentar ab.

And when there’s nowhere else to run
Is there room for one more sun
These changes ain’t changing me
The cold-hearted boy I used to be

11:12 Uhr

Kevin wollte schon seine Durchsicht beenden, als er auf die Aufnahme stieß, die eine ganze Reihe von Ereignissen in Gang bringen sollte: Er war vorhin mit der Kamera aus dem Foyer zurückgekehrt und hatte im Newsdesk einfach so die Leute gefilmt. Footage… Dabei hatte er eine kurze Weile auf die kleine Truppe draufgehalten, die da bei Herrn März um den Tisch herumstand. Erst jetzt erkannte er, dass da noch jemand war. Ein älterer Herr mit grauen Haaren und eine Frau mit Regenschirm. Kevin nahm den Kopfhörer vom Smartphone und stöpselte ihn in den Camcorder ein. Und was er da sah und hörte verschlug in dem Atem…

Offenbar hatte sich eine kleine Truppe, zusammen mit dem verkohlten Zirkusdirektor Santoni, mit Kunden getroffen. Kevin spulte zurück und drehte den Ton so weit auf, wie es ging. Jetzt hörte er, dass Franka Kruse was erzählte. Sie schien den anderen YNN zu erklären. Wie konnte das sein? Sie hatte doch keinen Schimmer! Er war es gewesen, der dem Konzept den letzten Schliff gegeben hatte. Und warum war er nicht bei solchen Meetings dabei? Kevin schnappte nach Luft, nachdem er einige Sekunden das Atmen vergessen hatte. “Fuck!” Dann pfefferte er die noch laufende Kamera in seinen Papierkorb und sprang auf. Ein paar Sekunden später stand er am Tisch von Manfred März, der sich wieder mal den Bauch hielt. Er telefonierte:

“Ja Ginger. Natürlich könnt Ihr kommen. Aber ich habe zu tun… Was? Ja gut, dann bring die Hemden mit.” Manfred sah nicht so aus, als hätte er sich als nächstes ein Gespräch mit Kevin gewünscht. Doch der ignorierte das: “Herr März! Ich muss mit Ihnen sprechen! Jetzt!” Kevin stützte sich mit beiden Armen auf Manfreds Schreibtischplatte ab. “Wieso gibt es hier Meetings, bei denen Sie mein Konzept vorstellen und ich bin nicht dabei?” Doch Manfred war, was Kevin unterschätzt hatte, wenigstens genauso geladen. “Herr Schmidt, Sie haben mir jetzt wirklich noch gefehlt…” Er sprang auf und griff nach seinem Arm, um ihn in Richtung Garderobe zu ziehen. “Aber…”, versuchte Kevin sich aus der Situation zu lavieren. Doch Manfred ließ nicht los. Im Gegenteil – sein Griff war wie ein Schraubstock.“Wir haben jetzt ein ernstes Wörtchen zu wechseln, mein junger Freund”. Mit der freien Hand griff Manfred nach seinem Bauch, der sich anfühlte, als hause ein kleiner böser Troll darin, der noch schlechtere Laune hatte als er.

Als sie in der Garderobe angekommen waren, zum Glück war sie gerade leer, ging Manfred gleich zum Angriff über. Das brauchte er jetzt, denn noch zehn Minuten vorher hatte er eine heftige Standpauke von Ricardo Santoni über sich ergehen lassen müssen, in der es viel um Respektlosigkeit und das Ausnutzen guter Freunde gegangen war. Santoni war, ohne jemanden auch nur eines Blickes zu würdigen, aus dem Büro gestürmt und Manfred wusste, dass sie nie wieder ein Wort miteinander wechseln würden.

“Schmidt…”, zischte er ihn von unten bedrohlich wie eine Schlange an. Immerhin war Kevin gut eineinhalb Köpfe größer. “Wie können Sie es wagen meine Entscheidung zu unterminieren?” “Wie bitte?” Kevin war sich längst nicht mehr so sicher, ob sein Angriff so eine kluge Sache gewesen war, doch da musste er jetzt wohl durch. “Sie verstehen mich genau und ich habe Sie durchschaut. Seit der Sache damals, wo sie Bridge die Show stehlen wollten, laufen Sie hier mit einer Flappe herum und verstecken sich hinter Ihrer Kamera. Sie wurden von mir persönlich geholt, um den Zuchtstier zu retten und haben dabei vollständig versagt”. Manfred wusste, dass das so nicht ganz stimmte, doch jetzt war er in Rage und da nimmt man es mit der Wahrheit nun mal nicht immer so genau. “Sie waren als Verkäufer eine Niete und wenn sich James Bridge nicht so für Sie eingesetzt hätte, dann wären Sie heute nicht hier und würden für ihr Video-Herumgemache jeden Monat 4000 Euro einstecken.” Manfred war nicht zu bremsen. Ihm gefiel, dass er jetzt endlich einen Kanal hatte, um Dampf abzulassen. Und wenn es dieser Schmidt abbekam, meine Güte, dann war das halt so.

“Schmidt, Sie glauben wohl, Sie seien unentbehrlich hier? Das Konzept? Sie meinen wirklich, das Konzept sei von Ihnen? Dass ich nicht lache. Nur weil Sie jeden Tag was bei diesem Twicker, oder wie das heißt, schreiben, sind sie noch lange kein Held. Natürlich sind Sie nicht bei allen Meetings dabei. Sie…”, Kevin riss sich los und schaute Manfred März mit so viel Abscheu von oben herab an, als sei dieser ein Hund, der ihm gerade ans Bein pinkelte. “Sie spinnen wohl März. Das muss ich mir nicht bieten lassen. Und schon gar nicht von Ihnen”, zischte er zurück – denn auch er war darauf bedacht, dass die anderen draußen nichts von ihrem Streit mitbekamen. Er lächelte März an, doch war dies nur die Karikatur eines Lächelns, denn es lag genau so viel Verachtung darin, wie Kevin aufzubieten in der Lage war.
“Von wem sind denn die ganzen Ideen? Wer hat denn das Social Media Konzept für YNN gemacht? Wer hat denn dafür gesorgt, dass die Technik stimmt, die Programmierung und der ganze Workflow hier?” Kevin hätte März am liebsten mitten auf die Zwölf geschlagen, so wütend war er. Was erlaubte sich der alte Sack?

“Ach, reden Sie nicht Schmidt. Sie sind austauschbar. Sie wollen sich nicht allen Ernstes mit einem Bridge vergleichen. Dass ich nicht lache…” Manfred versuchte zu lachen und zwar genauso hämisch wie Kevin, doch eine erneute Schmerzwelle an Magenkrämpfen vereitelte das. Heraus kam eine Grimasse, die jeden anderen veranlasst hätte, sofort einen Notarzt zu rufen. Nicht so Kevin. “Sie sind entlassen” spie ihm März in Gesicht, während er versuchte, sich unbemerkt an einer Kiste abzustützen. Jetzt bloß keine Schwäche zeigen. Doch Kevin spürte, dass März wankte und deswegen holte er zum alles entscheidenden Schlag aus: “Sie können mich gar nicht entlassen, denn Sie sind kein Boss mehr. Sie werden hier nur noch geduldet. Und das, obwohl sie keinen blassen Schimmer von YNN haben. Aber Sie sind zu alt, um das begreifen. Zu stur, zu…”

In diesem Moment ging die Tür auf und Franka steckte ihren Kopf zur Tür hinein: “Alles in Ordnung?” fragte sie, obwohl sie mit dem ersten Blick erfasste, dass nichts in Ordnung war. März sah aus, wie ein Boxer nach dem entscheidenden Schlag, kurz bevor er zu Boden ging. Und Schmidt wie sein Gegner, der genau diesen geführt? hatte und jeden Augenblick die Hände als Sieger zum Himmel recken würde.
“Alles in Ordnung”, rief ihr Manfred März zu und verließ den Raum mit gesenktem Kopf. “Kein Thema…”, kommentierte Kevin, der zum Glück die Hände da ließ wo sie waren – geballt in seinen Hosentaschen. “Dann ist ja alles gut”, erwiderte Franka und tat so, als würde sie etwas in der Garderobe suchen. Und da es nichts mehr zu sagen gab, ging auch Kevin.

11:24 Uhr

Als er auf seinen Schreibtisch zuging, sah Kevin, dass die Chinesin dort schon auf ihn wartete. “Hallo Kevin. Ich habe die Kamela aus dem Papielkolb geholt. Sie ist heluntergefallen”, lächelte sie ihn an und warf erst einen schüchternen Blick auf ihre Tracht und dann auf Kevin. Der hatte alle Mühe, sich seine Wut nicht anmerken zu lassen. “Was gibt´s?” blaffte er sie an. Doch Mingfei ließ sich dieses Mal nicht so schnell abschütteln. Sie hatte den ganzen Morgen auf diesen Moment gewartet. Eine ruhige Minute, die nur ihnen beiden gehörte. Trotzdem war sie vorsichtig: “Hell Schmidt. Soll ich noch einmal wiedel kommen?” Sie wippte auf ihren Schuhspitzen wie ein kleines Mädchen, vielleicht auch, um ein paar Zentimeter größer zu wirken. “Ja. Nein.” Kevin schien verwirrt. “Äh, ich meine, was ist denn?” Jetzt sah er sie auch an. Wenn sie nur nicht immer so übertrieben freundlich lächeln würde. Kevin stand im Moment gar nicht darauf. Und auf keinen Fall würde er zurück lächeln. Damit war Schluss.

“Sie haben mich nach del Adlesse geflagt?” Mutig schaute sie ihn weiter an. Mitten in die Augen. Doch er versuchte irgendwie ihrem Blick auszuweichen. “Welche Adresse denn?” Im Moment machten Kevin all die starken Gefühle, die in ihm tobten, auch etwas begriffsstutzig. Und das machte ihn insgeheim noch unruhiger. “Die Adlesse von del Web-Filma. Aus China!” Kevin überlegte kurz. Dann fiel es ihm wieder ein. Irgendwann in einem kurzen Gespräch, hatte er die Chinesin, mehr um sie los zu werden, gebeten, für ihn chinesische Web-Firmen zu recherchieren. Irgendwann hatte er mal gehört, dass man dort für einen Apfel und ein Ei hochwertige Programmierungen im Osten beauftragen konnte. Doch danach hatte er es gleich wieder vergessen. “Ach so, DIE Firma meinst Du”.

Leslie Mingfei Schneider hielt ihm einen kleinen rosa Zettel hin, auf dem sie in ihrer schönsten Handschrift die Kontaktdaten aufgeschrieben hatte. Sie hatte sogar in China angerufen und dem Inhaber der kleinen Softwareschmiede von Kevin vorgeschwärmt, sich für ihn verbürgt und seine baldige Kontaktaufnahme angekündigt. Alles das wusste Kevin natürlich nicht und es interessierte ihn auch herzlich wenig. Er nahm den Zettel entgegen, von dem ein zarter Duft ausging, den er nicht definieren konnte – und wollte. Die Chinesin stand noch immer da und lächelte, leicht auf den Zehenspitzen stehend. “Äh ja, danke”, wollte Kevin die Sache gerade abtun, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss.

“Sagen Sie mal…”, versuchte er einzufädeln, während in seinem Kopf die Konturen eines Plans entstanden. “Ja?” Mingfei war sichtlich erfreut, dass die Unterhaltung noch nicht vorbei war. “Ähm, was ist das für eine Firma? Eine große oder eine kleine? Was machen die genau?” Mingfei überlegte kurz: “Sitzen in Hongkong. Ist del Schwagel, von einem guten Fleund meines Bludels in Hongkong. Gute Menschen.” Man merkte, wie sie versuchte die richtigen Worte zu finden, um nur nichts Falsches zu sagen. “Eine kleine Filma, abel mit viel Potenzial. Sind gelade in Velhandlung mit glossen Investolen. Machen Softwale und Medien…” Kevin wurde hellhörig. Seine Wut war wie weggeblasen. “Medien? Was meinst Du damit? So wie wir hier?”

“Nicht ganz. Alles etwas glößel” gab sie zurück. “Größer?” “Ja, glößel”. “Wie viele Mitarbeiter haben die denn?” Mingfei überlegte kurz: “Ungefähl zweihundelt…”

In Kevins Kopf ratterte es. Er wusste selbst noch nicht, worauf das alles hinauslaufen würde, doch er merkte, dass sich hier eine gewaltige Chance für ihn auftat. “Und die wollen mit mir sprechen? Oder mit YNN?”, fragte er nach. Mingfei dachte kurz nach, wobei sich ihr Mund etwas entspannte, dann kam der für Kevin entscheidende Satz: “Mit Ihnen, Hell Schmidt. Mit Ihnen.” Kevin bemerkte nicht die Erwartungen, die in diesen Worten mitschwangen, denn in diesem Moment formten sich in seiner Fantasie ganz abenteuerliche Bilder. Er warf einen Blick durch das Büro. Alle waren mit ihren Arbeiten beschäftigt, auch Manfred März. Der Plan in Kevins Kopf nahm Formen an. “Sprechen die dort auch Englisch?” “Abel natüllich. Das ist ein ganz junges Untelnehmen. Die splechen sogal Deutsch!”

“Wunderbar. Wunderbar. Klasse”, rief Kevin aus und zumindest seine Augen schienen dabei zu lächeln. Sein Herz machte einen Hüpfer, genauso wie das von Leslie Mingfei Schneider. Doch die Gründe hierfür hätten unterschiedlicher nicht sein können.

 

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