DIE KERNFORSCHER

Portrait: Manfred März Kapitel 4: Das Gesicht hinter der Maske 12. April 2016

Der Panic-Room befand sich neben dem kleinen Konferenzraum im Erdgeschoss, unweit von James Büro. Manfred hatte sich mit Franka, James, Rudy und Curtis für eine kurze Verschnaufpause zurückgezogen, um die Lage zu überdenken. Eine Entscheidung musste her.

Der Raum war sehr klein und bot an seinem Tisch gerade mal Platz für sechs Personen. Den Namen hatte er von Jennifer Reed erhalten. Es war der einzige Raum, in dem man so richtig herzhaft ausrasten konnte, ohne dass es jemand mitbekam – wenn die Tür geschlossen war. Ansonsten wurde der Raum nur selten benutzt. Doch jetzt war er genau richtig für die kleine Gruppe, um ungestört wichtige Entscheidungen zu treffen.

“Um es kurz zu machen”, begann Manfred, als sie alle Platz genommen hatten. “Jede Minute, die wir hier sitzen, redet uns Dan Martin da oben tiefer in die Grütze”. “Und das am ersten Tag”, stöhnte Curtis, hielt sich aber mit weiteren Kommentaren zurück. “Wir müssen also schnell entscheiden und so wie es aussieht, ist keine der Entscheidungen von Vorteil”, führte Manfred weiter aus. “Entweder wir lassen Dan weitermachen und machen uns zum Gespött der Zuschauer, oder…” “Oder wir werfen ihn raus und das Studio ist leer”, fiel ihm James ins Wort, dem nach und nach die Stimme komplett versagte. “Stimmt”, Franka legte ihre Stirn in Falten: “Dabei hat das Programm noch gar nicht richtig angefangen. Doch es hilft nichts: Wir müssen zuerst Dan und dann die Trolle in den Griff bekommen”.

“Aber vielleicht ist es gar nicht so schlimm”, meinte Rudy, der ein Bonbon lutschte, das einen starken Sauerkirschgeruch verströmte. “Nicht schlimm?” wollte Curtis wissen. “Ja, genau. Die Leute zerreißen sich zwar das Maul, aber sie wollen sehen wie es weitergeht!” “Wir sind doch kein Zirkus”, empörte sich Manfred erst, doch dann merkte er, worauf der Techniker hinauswollte: “Du meinst, wir sollten das Programm öffnen?” “Ja”, antwortete Rudy und stieß vor Aufregung eine neue Sauerkirschwolke aus. “Vielleicht ist etwas Chaos gar nicht so schlecht”.

“Mag sein, aber so bekommen wir niemals das seriöse Publikum”, zweifelte Franka. “Das kommt am Anfang sowieso nicht, dafür brauchen wir erst einen Hook”, meinte Rudy. “Hook?”, wollte Manfred wissen. “Ja, einen Haken, einen Aufhänger, versteht Ihr?” “Hmm”, Manfred dachte nach, dann stand er auf: “Also gut, die erste Frage ist: Wer ist dafür, dass Dan Martin geht?” Alle, auch er selbst, hoben die Hand. “Gut. James, übernimmst Du das?” “Ja”, wenn er mich hört”, krächzte James augenzwinkernd.

“Und was dann? Gaetana kann nicht minutenlang die Einrichtung filmen”, überlegte Manfred laut. “Ich habs”, rief Rudy, der die ganze Zeit anscheinend parallel auch noch über dieses Problem nachgedacht hatte. “Ich stelle einen Twitterboter ins Studio!” Rudy schaute sie an, als wäre damit alles vollkommen klar. Doch nur Curtis antwortete: “Voll swag man!” Manfred wusste zwar mittlerweile, dass das eine Art Lob war, doch mehr verstand er im Moment nicht: “Einen Twitterwas bitte”, wollte er wissen. Curtis war ganz aufgeregt: “Rudy hat einen genialen Roboter gebaut! Der kann sprechen und die Tweets vorlesen, die die Leute an uns schicken. Und ich glaube, er kann sogar Befehle ausführen”, erklärte er die grandiose Erfindung seines Freundes. “Einen Twitterboter…”, Franka dachte kurz nach, dann rief sie “das ist genial: So passiert was im Studio – und wir können gleichzeitig die Leute bei Twitter abholen! Ja, so machen wir das”. “Also gut”, stimmte Manfred zu. Und sie machten sich auf den Weg, um ihren genialen Plan in die Tat umzusetzen.

12:14 Uhr

James betrat leise das Studio und blieb im toten Winkel der Kamera. Er signalisierte dem zweiten Kameramann Mats M. Kristensen, dass er gleich in die Moderation eingreifen wollte. Doch der, seine Handycam im Schoß, rollte nur fragend mit den Augen und zuckte mit den Schultern.

James wollte Dan, sobald er dessen Moderation beendet hatte, in Manfreds Büro eskortieren, damit der ihn sich vorknöpfen konnte. Rudy würde seinen Twitterboter platzieren, Franka im Social-Media-Room die Stellung halten und James versuchen, einen Ersatzmoderator herbeizutelefonieren – so lange ihn seine Stimme noch nicht ganz verlassen hatte. So oder so, die Situation war alles andere als optimal und Manfred malte sich aus, mit welcher Freude das Management von Míngrì – allen voran Kevin Schmidt, der Verräter – ihre Sendung gerade verfolgten.

Manfred sah, dass James nun neben Gaetana Esposito mit der Hauptkamera stand, die seine Anwesenheit sichtlich überraschte. James ging in die Hocke, lief im Entengang auf den Moderator zu und zupfte ihn am Hosenbein. Dieser erschrak sichtlich und sah zu James, der erst ein Time-out-Zeichen machte und dann energisch in Richtung Tür zeigte. Dan Martin versuchte erst einfach weiterzumoderieren. Doch als James nicht lockerließ begriff er, dass für ihn die Show vorbei war. Er erhob sich, winkte wortlos in die Kamera und verschwand dann einfach aus dem Bild. Für die Zuschauer musste es aussehen, als sei er kurzerhand verhaftet worden.

Gaetana – vollkommen überrumpelt und verwirrt von der Situation – schwenkte in ihrer Not mit der Kamera auf James, der inzwischen aufgesprungen war und Dan am Ärmel geschnappt hatte, um ihn aus dem Studio zu bugsieren. “Verdammt, wo bleibt Rudy nur”, dachte James und verfiel in leichte Panik. Mehrfach zeigte er energisch in die entgegengesetzte Ecke des Studios, doch Gaetana konnte dort wirklich nichts Filmenswertes finden. Also entschied sie sich das Geplänkel von James und Dan weiterzuverfolgen. Die Mikros erfassten gerade noch ein röcheliges “Wieso denn?” von Dan – dann war endlich Rudy zur Stelle und brachte den Twitterboter hinter dem Schreibtisch in Position. Manfred vergrub seinen Kopf in den Händen. Er dachte an Marzipan, einen Strand und Musik von Herbie Hancock. Ob das half?

Wenig später stand ihm Dan gegenüber. Nach und nach füllte sich sein Büro, denn alle wollten wissen was geschehen war und wie es weitergehen würde. Doch Manfred dachte viel mehr an die kostbaren Sendeminuten, die vergingen, als daran, Dan zur Rede zu stellen. “Glaubst Du, wir bekommen schnell einen Ersatz”, fragte er James, der neben ihm stand. Doch der schüttelte nur den Kopf. Entweder mochte er es nicht aussprechen oder seine Stimme hatte nun gänzlich versagt. “Gut, das klären wir gleich…”, knurrte Manfred und wandte sich Dan zu. “Dan, was ist mit Dir los? Du weißt doch, wie viel für uns heute auf dem Spiel steht”, begann er, ohne gleich mit der ganzen Wahrheit rauszurücken. Dan sah ihn an und danach alle anderen im Raum. Entweder war er ein richtig guter Schauspieler – oder er hatte wirklich keine Ahnung…

“Meint Ihr, weil ich gähnen musste? Sorry, das kann doch mal passieren. Aber das ist doch kein Grund, um mich…”. Er ließ den Satz unbeendet und sah sich um, um die Reaktionen zu testen. Er traf auf eisige Stille. “WAS IST DENN?”, schrie er nun und riss sich die Mütze vom Kopf. “Dan, kann es sein, dass Du uns nicht alles über Dich erzählt hast”, versuchte es Franka. “Was meinst Du?”, Dan reckte seinen Kopf vor, als hätte er nicht richtig gehört. “Na ja, wir haben Grund zu der Annahme, dass Du nicht ganz ehrlich mit uns bist”. “Sag doch, wie es ist”, zischte Rudy, der nicht so viel Langmut aufbrachte. “Du arbeitest für diese Míngrì-Ärsche”. Er ging auf Dan zu und baute sich in seiner ganzen Fülle vor ihm auf. “Spinnst Du? Míngrì, ich?”, versuchte Dan noch immer abzustreiten. “Aber wir haben ein Video von Dir gesehen! Beim Míngrì-Youtube-Channel”, kesselte Wanda ihn nun ein. “Ja, das mit der Winkekatze. Das hat über 500.000 Views und ich habe sogar noch mehr gefunden. Alle bei Biz PunkTV. Das ist doch der Business-News-Channel von Míngri, oder etwa nicht”, ergänzte ihre Schwester. “Aber das ist absurd”, wand sich Dan und schob sich Millimeter für Millimeter Richtung Tür.

“Ach, das bringt doch nichts. Wir verlieren nur Zeit”, beendete Manfred die Befragung. “Dan, schnapp Dir Deine Sachen. Wanda und Nia, Ihr begleitet ihn bitte nach draußen”. Dan schien erleichtert, doch so leicht wollte Manfred ihn nicht davonkommen lassen: “Dan…” “Was?”, Dan wirkte nun doch ziemlich kleinlaut. “…das wird noch ein Nachspiel haben”. Die Drei zogen ab. “So und nun zu dem wichtigeren Thema: Der Twitterboter wird nicht lange vorhalten und wir brauchen eine echte Lösung. Ihr wisst ja, dass wir gleich Besuch bekommen”. “Shit”, stöhnte James und rannte los.

12:28 Uhr

Manfred verließ als letzter sein Büro. Auf dem Weg zum Empfang kam ihm Dan mit gesenktem Kopf entgegen, eskortiert von Wanda und Nia, beide schauten sehr streng. Lesli Mingfei sah ihn fragend an: “Später Lesli”, winkte er ab. “Lesli, Jennifer: Demnächst müssten unsere ersten Studiogäste kommen. Lesli, würdest Du sie bitte in die Garderobe bringen? Und Jennifer, machst Du Dich bereit, sodass Du sie dann gleich in die Maske nehmen kannst?” “Ja, klaro”, antwortete die Engländerin während sie Mr. X hinter dem Ohr kraulte.

Manfred erreichte die Technik. Ein Blick ins Studio zeigte, dass Rudys Roboter – ganz aus Metall, blau lackiert und mit zwei leuchtend gelben Augen ausgestattet – seine Arbeit aufgenommen hatte. Er bewegte seinen Oberkörper und ruderte mit den Armen. “So lange nur das Netzwerk stabil bleibt!”, dachte er. Jetzt konnte er den Roboter aus dem Lautsprecher hören. Seine Stimme klang metallisch, aber gar nicht mal unsympathisch: “@PSTV hat einen #Twitterboter – wie geil ist das denn?” Und kurz darauf: “Endlich: @PSTV will gleich einen Talk machen. Jetzt wirds interessant!” Danach hörte man: “Endlich ist der Spinner mit der Pudelmütze weg. Ich dachte schon: Was für ein #Kinderprogramm @PSTV”.

Etwas zufriedener betrat Manfred den Technik-Raum. “Ich habe nur kurz Zeit, denn gleich kommen die Gäste. Wie sieht´s hier aus?”, fragte er in den noch immer abgedunkelten Raum hinein. Florian Goldzin saß wie vorhin am Computer, Rudy und Curtis blickten ihm über die Schulter. Aus der Ecke drang lautes Schnarchen. Bella schien es hier prächtig zu gefallen.

Von Florian kam keine Reaktion. Deshalb winkte Manfred Rudy herbei. Der kam und flüsterte ihm seine Statusmeldung zu: “Flo ist richtig gut! Er hat den Laden dicht gemacht und den Hacker rausgeworfen!” “Und er muss das System nicht runterfahren? Das wäre nämlich eine Katastrophe – und noch eine würden wir nicht verkraften”, flüsterte Manfred. “Ach, übrigens, danke für die Idee mit dem Twitterdings! Das scheint zu funktionieren”.

Manfred kam eine Idee: “Rudy, Du kannst doch hier im Moment nichts tun, oder?” fragte er. “Äh, nein, aber was soll das heißen?” Rudy wirkte etwas unsicher. “Ich glaube, wir brauchen einen neuen Moderator. Das kann doch bei aller Liebe nicht der Roboter machen…”, Manfred schaute Rudy intensiv in die Augen, in der Hoffnung, Rudy würde von allein auf den Zug aufspringen. Doch der schien noch nicht zu verstehen. “Gleich kommen unsere Gäste. Und es geht um Digital Business, Startups, Internet, Marketing, Social Media und so. Könntest Du Dir vorstellen…”. Jetzt schien bei Rudy der Groschen zu fallen. Fast hätte er sich an seinem Bonbon verschluckt.

“Na ja, ich wüsste niemand besseren, der übernehmen könnte. Du kennst Dich aus, hast gute Einfälle, bekommst ganze Sätze heraus und…”. “Du schmierst mir grade ziemlich viel Honig um den Bart”, Rudy grinste. Also so schlimm und abwegig war die Idee nicht. Manfred gefiel sie immer besser: “Es ist ja nur bis die zweite Schicht kommt”, koberte er nach. “Wenn Du willst, dann kannst Du es mit Curtis zusammen machen. Ihr seid bestimmt ein gutes Gespann – wenn Du ihn nicht zu viel zu Wort kommen lässt”, zwinkerte Manfred.

“Hmmm…”, Rudy zog eine ganze Weile ziemlich viel Luft durch die Nase. “Und wenn es hier was zu tun gibt?” “Na, dann schickst Du Curtis raus und er macht es mit Florian. Ist ja nur heute”. Manfred legte den Kopf zur Seite, schmunzelte und hielt Rudy die ausgestreckte Hand hin: “Ich spreche mit Janssen Media. Da ist bestimmt auch noch ein extra Honorar für Euch drin”. In diesem Augenblick klingelte das Telefon im Technikraum. Es waren die ersten Töne der Star Wars-Melodie. Curtis ging ran, horchte und legte wieder auf: “Das war Mingfei: Die Gäste sind da und machen sich jetzt auf den Weg in die Umkleide”. “Gut so. Ich habe das Gefühl, bald sind wir aus dem Ärgsten raus. Ich werde jetzt noch mal mit Franka und James sprechen. Dann begrüße ich die Gäste. James wird sie einweisen. Und wann kannst Du anfangen?” “Sofort!” Manfred blickte vielsagend an seinem olivgrünen Yoda-T-Shirt herunter. Rudy folgt seinem Blick und entdeckte einen großen Schokofleck. “Den mach ich noch weg – logisch”, dann ging er zu Curtis rüber, um ihm die Neuigkeiten zu verkünden.

12:49 Uhr

Manfred hatte mit Franka gesprochen – die Inhalte der Kommentare schienen wieder normal zu sein. Ein Glück. Als er bei James ankam, hatte dieser das Programm schon etwas umgestellt und mit dem Grafiker gesprochen, dass dieser einige Videos im Hintergrund laufen ließen, damit das Bild mit dem Twitterboter nicht ganz so langweilig war. Curtis war dabei Florian in das Nötigste einzuweisen. Der sollte zwischen den beiden Kameras hin- und herschalten. Wenn es Probleme gäbe, würde Curtis einfach wieder aus der Sendung gehen und ihn unterstützen. WebTV vom Feinsten…

Manfred ging in die Umkleide, einen länglichen Raum mit einem langen großen Spiegel und mehreren Stühlen davor. Die vier Talkgäste hatten bereits Platz genommen und Jennifer kümmerte sich um ihr Äußeres. “Hallo, ich bin Manfred März, der Redaktionsleiter. Gleich kommt auch noch der Produktionschef, Herr Bridge und erklärt Ihnen alles.” Er schüttelte die Hände. “Wolfgang Lowe, Giga Gadgets”. “Tim Schumacher, Triggery”. “Kesha W. McClelland. 2Spittly”. “Torril Laray, Laray Communications”. Alle Gäste stellten sich vor.

“Ich muss Ihnen noch sagen, dass…”, wollte Manfred die missliche Lage erklären. “Dass der Moderator weg ist? Wir sind schon up to date”, erwiderte Kesha und wedelte grinsend mit ihrem Smartphone. “Wir sind gespannt, wie es weitergeht!” Alle grinsten, nur Wolfgang Lowe schaute skeptisch: “Ich hoffe, Sie lassen uns gut dastehen Herr März”, grunzte er. “Aber natürlich Herr Lowe, wir haben jetzt alles im Griff und wir werden…”. Weiter kam Manfred nicht, denn es gab einen höllischen Knall. Mit einem Schlag war es dunkel im gesamten Gebäude. “Ups!”, machte Jennifer Reed. Sonst sagte niemand was. Man hörte nur noch, wie sich Manfred am Bart kratzte.

 

Zum vorherigen Kapitel Zur Praxis Zum nächsten Kapitel

Kommentieren

schließen

Kapitel 4: Das Gesicht hinter der Maske

Schreibe einen Kommentar

control

Kapitel 4: Das Gesicht hinter der Maske April 12, 2016

Kontakt


Suche