DIE KERNFORSCHER

Working Women Kapitel 2: Frankas Momente 2. Januar 2014

Altona. Endlich ein Parkplatz. Noch ein paar Minuten Fußweg und Franka hatte den morgendlichen Marathon zum Verlag geschafft. Gerade als sie von der kleinen Seiten- auf die Hauptstraße trat, setzte dieser für Hamburg so typische Nieselregen ein. Es war ein richtig kalter Januarmorgen. Franka schlug den Mantelkragen hoch und eilte hinüber zur Fußgängerzone. Unter dem Arm einen Beamer – noch originalverpackt –, zwei zum Bersten gefüllte Aktenordner und eine große Einkaufstasche voller Spielzeug. Sie sah auf die Uhr: Halb Neun. Jetzt hieß es Schubrakete geben. Doch schon nach wenigen Metern musste sie ihre langen Schritte zügeln. Eine Menschentraube hatte sich um einen Straßenmusiker versammelt. Bob Dylan. „The times they are a changing“. Manche der Zuhörer klatschten sogar im Takt.

„Alles gut und schön, aber ich muss hier schnell mal durch“, drängte Franka. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Sie versuchte sich möglichst geschickt einen Weg durch die Menge zu bahnen. Stück für Stück. Zug um Zug. Fast wäre dabei der Beamer herunter gerissen worden. Als sie die Traube endlich hinter sich gelassen hatte, legte sie noch einen Schritt zu. Doch da überholte sie ein Fahrrad, nur um dann direkt vor ihr wieder zu bremsen. Regenwasser spritzte in alle Richtungen.
„So fahren Sie doch bitte!“ rief sie dem jungen Mann in Hipsterhosen grimmig zu und dachte verächtlich „Agentur-Fritze“.
„Machen Sie Scherze? Vor mir geht ‘ne alte Dame…“, gab der zurück.
„Ich bin weit davon entfernt zu scherzen“, rutschte es aus ihr heraus. Sie biß sich auf die Unterlippe und dachte an den Titel des Buches, das sie gerade las: „Achtsamkeit für alle – überall“. Stimmt ja. Aber für so was war jetzt definitiv keine Zeit. Immerhin blieb sie doch ruhig – und das obwohl sie bereits seit fünf Uhr auf den Beinen war und im Dauerlauf die übliche Mutter-Kind-Kita-Tour absolviert hatte, um ihre Tochter Annabel rechtzeitig unterzubringen.

Die Regentropfen wurden schwerer und schneller. Hätte sie doch bloß ihren Schirm mitgenommen, tadelte sie sich in Gedanken, als sie in die Bahrenfelder Straße einbog. Gleich hatte sie das kleine portugiesische Café von Georgia erreicht – ihre Rettung: Hier gönnte sie sich jeden Morgen einen Galao (einen portugiesischen Milchkaffee) und ein getoastetes Käse-Croissant (ebenfalls die portugiesische Variante). Sollten sich doch alle mal gehackt legen. Achtsamkeit. Von wegen…

Das Handy klingelte. Sie hörte es schon am Klingelton: Es war der Verlag. Genauer gesagt Chefredakteur Manfred März. Franka blieb vor der Café-Tür unter der Markise stehen und fischte in ihrem Parka herum. Functional wear. Das hieß gefühlte zwanzig große und noch mal genauso viele kleine, versteckte Taschen. Eine halbe Ewigkeit später bekam sie das Gerät zu fassen.
„Hallo? Kruse! Ach, guten Morgen Herr März. Wie geht es Ihnen? … Wo ich bleibe? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich noch einen Ersatz-Beamer besorge. Außerdem musste die Kleine noch in die Kita, und…“.

„Wie bitte? Ja. Nein… Nein… JA! Herr März, ich weiß selbst was wir heute für einen Tag haben. Das können Sie mir glauben. Ich bin schon seit fünf…“
Weiter kam sie nicht, März‘ Geschrei war auch dann noch gut zu hören, als sie ihr Handy genervt sinken ließ. So was. Der Tag hatte noch nicht mal richtig begonnen und schon gab es Stress. Unnötigen noch dazu. Denn alles, was der Chef ihr sagen konnte, wusste sie bereits. Sie atmete tief durch. Drei Sekunden ein. Drei Sekunden halten. Drei Sekunden aus. Sie hob ihr Smartphone wieder ans Ohr.
„Chef, wenn Sie mich nicht angerufen hätten, würde ich in diesem Moment mit einem heißem Café in der Hand die Redaktion betreten. Geben Sie mir fünf Minuten, dann…“. Aufgelegt.

Franka überlegte kurz, ob sie James anrufen sollte. Doch der war garantiert auch noch unterwegs. Also entschied sie sich erst einmal für einen schönen, heißen Kaffee. First Things first!
„Ah, Franka!“, begrüßte sie eine bildhübsche Frau Anfang zwanzig hinter dem Tresen. Georgia sah aus, als könne sie gar nicht anders, als mit Männern zu flirten: Ein weißes, um die Stirn gewickeltes Tuch bändigte ihre rote Lockenmähne, ein enges T-Shirt spannte sich über ihre üppige Figur. Sie lächelte Franka mit einer Reihe tadelloser Zähne strahlend an.
„Un Croissant und un Galao?“, rief sie ihr eher zur Bestätigung, denn als Frage zu, während sie sich an den Apparaturen zu schaffen machte.

„Ja genau, das kann ich jetzt wirklich gut gebrauchen,“ Franka kramte ihren Geldbeutel hervor. und zahlte Das muntere Lächeln tat ihr gut. „Ich hab´s eilig – Du weißt ja Bescheid: Die Präsentation. Aber vielleicht komme ich nachher noch mal rein und erzähle Dir, wie‘s gelaufen ist,“ versprach Franka, schnappte sich ihren Kaffee und ihr Croissant und stürzte wieder zur Tür hinaus.
Georgia konnte gerade noch ein „De nada. Is wünsche Dia ein schöne Tak“ rufen, da hatte Franka das Café bereits im Dauerlauf verlassen.

„Paps, äh Jim… Was ist denn?“, Franka betrat das Foyer des Verlages und steuerte – das Smartphon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, das Frühstück, Beamer und die Akten balancierend – auf den Fahrstuhl zu. „Kind hast Du…“, setzte die Stimme am anderen Ende der Leitung an.
„Jim, ich habe an alles gedacht. Du kannst die Kleine um 13 Uhr abholen. Es bleibt doch dabei?“, Frankas Stimme war leise und gefasst, besaß aber diesen für Männer durchaus alarmierenden Unterton, der keine Widerrede duldete.
„Aber natürlich. Du kannst Dich auf mich verlassen. Mal nebenbei, wann hast Du das jemals nicht gekonnt? Aber wenn Du so viel arbeiten musst…“, Franka wartete die Ouvertüre zum Lieblingsvortrag ihres Vaters nicht ab. Jetzt war wirklich nicht der richtige Moment dafür: „Ich weiß Paps. Tut mir leid. Der Stress. Ich betrete eben gerade den Verlag. Ich muss jetzt.“ Doch ihr Vater schien mit etwas anderem beschäftigt. Er schnaufte.
„Paps?“
„Wie oft habe ich Dich gebeten, mich nicht Paps zu nennen. Ich heiße Jim!“ Ihr Vater klang etwas beleidigt. Obwohl sie wusste, dass es nur gespielt war, erhöhte es ihren Druck nur noch weiter. „Du heißt Joachim, Paps, Joachim!“
„Aber Süße, ich habe Dich nur um diesen kleinen Gefallen gebeten. Ich…“
„Keine Sorge. Kommt nicht wieder vor, JIM. Aber ich habe wirklich im Moment keine Zeit mehr. Gerade kommt der Fahrstuhl. Grüße Anna von mir! Ich melde mich…“

Ohne eine Antwort abzuwarten drückte sie ihn weg. So eine Diskussion passte nun gar nicht. Und Franka hatte jetzt weiß Gott andere Probleme. In den nächsten Stunden war Einsatz gefragt. Kampflustig bestieg Franka den Aufzug, drückte auf die fünf neben dem kleinen Schild mit der Aufschrift „Expertenverlag“ und hatte das letzte Mal Zeit zum Verschnaufen: Kein Handy. Kein Jim. Kein Chef. Noch nicht einmal Gedränge. Sie war ganz allein.
Nur wenige Sekunden trennten sie noch vom Ernst des Tages. Franka stand da, betrachte sich Nase rümpfend im Spiegel und tat dann etwas, was sie noch nie getan hatte – und wohl auch nie wieder tun würde. Sie zwinkerte sich zu und gab ihrem Spiegelbild (als es gerade nicht hin schaute) einen ermunternden Kuss auf die Wange aus Glas. Dies war einer von „Frankas Momenten“, wie sie sie nannte.

8:18 Uhr

Als sich die Tür des Lifts öffnet, erwartete sie bereits die versammelte Mannschaft: Frank Schlechter, der Prokurist des Verlags. Kevin Schmidt, Digital Native und Web 2.0 Verkaufsgenie. Und ein paar „Nebensächler“, wie Kevin Schmidt sie nannte: Assistenten, Volontäre, Trainees. Sie alle schauten sie an wie ein gespanntes Publikum, das ungeduldig auf den ersten Schritt der Tänzerin wartet. Nur James fehlte noch.

Franka setzte zum Endspurt auf ihr Büro an, die Meute folgte ihr, sie erteilte erste Anweisungen.
„Schlechter, bitte drucken Sie dem Chef die Auswertungen der letzten Monate noch mal aus. Wir sehen uns dann in 15 Minuten in seinem Büro“. Die Meute folgte im Eiltempo, Anweisungen notierend. „Schmidt, Ihre Unterlagen habe ich bekommen – allerdings erst heute früh. Ob März das noch alles vor der Präsentation lesen kann bezweifle ich. Fassen Sie das so kurz wie möglich zusammen und schicken Sie es noch mal bis zehn Uhr. Und mailen Sie die Sachen bitte auch direkt an Spocky“. Weiter ging es im Laufschritt den Gang hinunter, an der Kaffeeküche und dem Büro der Grafiker vorbei. Schlechter und Schmidt drehten ohne ein weiteres Wort ab, im Schlepptau die Nebensächler.

8:20 Uhr

In diesem Augenblick bog James Bridge um die Ecke, der Chef vom Dienst des Magazins „Zuchtstier Heute“ – einem der Flaggschiffe des Expertenverlags.
„Werte Frau Kruse…“, James zauberte sein charmantestes Lächeln in sein Gesicht, „Da bin ich! Sehen Sie: Es ist noch genug Zeit. Sagen Sie dem Chef bitte, dass ich mich gleich bei ihm melde. Ich stelle bloß noch schnell meine Sachen ab.“ Die beiden eilten nun im Gleichschritt den Flur hinunter.

„Die Präsentation ist ja erst um 15 Uhr. Das erste Meeting machen wir übrigens um 12 Uhr. Einverstanden? Ich glaube, der Chef will Sie aber gleich sehen. Er ist ziemlich nervös,“ brachte Franka James auf den neuesten Stand.
„Kein Wunder, immerhin gehen hier heute Abend womöglich die Lichter aus, wenn wir den Etat heute nicht bekommen…“, James war in einen konspirativen Flüsterton verfallen.
„Machen sie keine Scherze, Mister“, flüsterte die Kruse zurück.
„Ein Bridge scherzt… ach, vergessen wir das. Und nennen Sie mich Herr Bridge. HERR! Wir sind hier in Hamburg und nicht auf der Insel. Wie hört sich das denn an…“

„Herr Bridge, natürlich gehen die Lichter nicht aus. Aber Sie haben sich ein halbes Jahr auf diesen Tag vorbereitet und quasi ein vollkommen neues Heft konzipiert. Tun Sie nicht so, als würden Sie jetzt alles auf die leichte Schulter nehmen“, bemerkte Franka mit gespielt strenger Miene, während sie resolut neben ihm her stöckelte.
„Außerdem stehen wir alle unter Druck. März macht mir seit zwei Wochen die Hölle heiß. Sie ahnen gar nicht, wie nervig er ist.“

James iPhone meldete sich: Eine neue E-Mail war angekommen.
„Was meinen Sie, liebe Frau Kruse, wer das wohl ist?“ James hielt sein iPhone in die Höhe. „Wer schickt mir hier E-Mails, obwohl ich nur ein paar Schritte entfernt bin und wir uns ohnehin gleich sehen? Was glauben sie, Frau Kruse?“ Jetzt war es James, der streng guckte. Und das konnte er besonders gut, indem er eine seiner Augenbrauen hochzog. Franka kannte diesen Blick. Er war es auch gewesen, der James seinen Spitznamen „Spocky“ eingebracht hatte. Und damit sie sich nicht verplapperte, nannte sie ihn nun eben einfach immer nur noch „Mister“.

„März?“ fragte sie mit gespielter Unschuldsmiene. James zog seine Augenbraue noch etwas höher, bis es fast etwas weh tat.
„Ja, eiskalter März!“
Sie waren an der Tür zu seinem Büro angelangt. „Chef vom Dienst“ verkündete in großen Lettern ein Messingschild.
„Sonst noch was, Fräulein KRISE?“, James betonte in gespieltem Ernst jede Silbe.
„Nein, das wär‘s für‘s erste. Den Rest sehen wir ja wohl dann nachher von Ihnen. Nicht wahr?“, gab Franka schmunzelnd zurück.
„Sehr richtig. Den Rest sehen wir dann nachher. Danke erst mal“, James ließ seine Augenbraue wieder sinken und lächelte.
„Ach übrigens, wo haben Sie denn heute Ihre Bella gelassen, Mister?“, wechselte Franka nun das Thema.
„Gelassen?“, James schaute verdutzt an sich hinunter. „Ich äh… ich äh… Wo ist der Hund? Wo ist… Bella?“ James durchfuhr es heiß und kalt. Bella war weg! Franka hatte seine Panik-Attacke gar nicht richtig mit bekommen – sie war bereits auf dem Weg zu ihrem Vorzimmer und zuckte bloß mit den Achseln: „Vergessen Sie nicht: Der Chef will Sie sehen – und zwar sofort“.

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