DIE KERNFORSCHER

Portrait: Bella Epilog: Es wird einmal 26. Mai 2015

“Nein! Ich gehe erst, wenn ich meine Daten habe”, Kevin saß an seinem Computer – um ihn herum standen Franka, James, vier Praktikanten, die Sanitäter und Walter Frese, der ihn am Kragen hielt wie ein Streifenpolizist den Strauchdieb bei Fluchtgefahr.
Mit der einen Hand klammerte sich Kevin am stählernen Bein seines Schreibtisches fest, mit der anderen fingerte er einen USB-Stick hervor. Sein rechtes Brillenglas war herausgesprungen, ein Auge fast zugeschwollen und seine Unterlippe blutete. Von oben tropfte das Wasser so heftig von der Decke auf seinen Arbeitsplatz herab, dass man Angst haben musste, der Rechner würde jeden Moment seinen Geist aufgeben.
“Los Kevin, beeil Dich!”, zischte Franka, die sich einen Regenschirm organisiert hatte, unter dem auch noch zwei Praktikanten Platz fanden. Man hatte ihm fünf Minuten zugestanden, um den geregelten Rückzug anzutreten.

18:41 Uhr

“Wir müssen jetzt endlich runter! Mary, Georgia und Mingfei können die Meute unten nicht noch länger mit ihren Sandwiches in Schach halten – ganz zu schweigen von dem Schlamassel, in den Du uns mit Deinem miesen Verrat gebracht hast”, appellierte Franka an Kevins Gewissen. Doch da war nichts, woran sie appellieren konnte.
“Sie haben doch selbst Schuld. Hätten Sie auf mich gehört…”, fispelte Kevin. Doch als er Walters zornigen Blick sah, hielt er sofort inne. Noch einen Schlag von diesem Kaliber hätte sein Schädel wohl nicht verkraftet. „Jetzt willst Du wohl auch noch den Rest der gestohlenen Daten vom Rechner ziehen, was? Pass bloß auf Bürschchen… nur Persönliches. Hörst Du?”, Walter Frese hob drohend die Faust. Kevin nickte hastig.

Die restliche Crew war damit beschäftigt zu retten, was noch zu retten war. Sogar die Fenster Kings halfen mit. Gemeinsam schoben sie die Möbel zur Seite und brachten Computer, Bildschirme, Drucker, Telefone und sogar die Wandmonitore in der trockenen Garderobe unter. Es fiel kein Wort. Das einzige, was in dem großen Newsroom zu hören war, waren die emsigen Schritte auf dem feuchten Teppich und stetiges Tropfen.
“Hat eigentlich jemand die Feuerwehr gerufen?”, fragte der ältere Sanitäter in die Runde. Allgemeines Achselzucken.

“Wir haben Rudy, den Praktikanten, nach oben in die siebte Etage geschickt, um beim Nachbarn zu fragen, was da los ist”, erklärte James. “Dann wäre es gut, wenn Du sofort die Feuerwehr rufst”, wandte sich Franka an einen der Praktikanten und wies auf das letzte Telefon, das noch in seiner Buchse steckte, und einsam auf dem feuchten Boden stand. “Hoffentlich ist unser Nachbar gut versichert”.

Endlich war Kevin fertig. Er schaltete den Rechner aus, raffte so viele Marvel-Figuren aus dem Regal wie er tragen konnte und schnappte sich seine Jacken vom Kleiderständer. Er wollte sich schon davon machen, doch Walter hatte ihn noch immer fest im Griff. “Lassen Sie mich los, Frese!”, schüttelte er dessen Hand ab. Die Sanitäter schubste er mitsamt ihrer Trage einfach beiseite: “Ich kann alleine gehen!”, rief er und eilte in Richtung Fahrstuhl. “Das wird noch ein Nachspiel haben, Kleiner! Wir sehen uns vor Gericht”, bellte Walter ihm hinterher. Dann fiel ihm auf einmal wieder die Präsentation ein: “Oh! Mein Jackett”, er lief zu Manfreds Sofa hinüber und kam nach wenigen Sekunden mit seinem vollkommen durchnässten, mit Blut beschmierten Jackett zurück. Er sah aus wie ein Serienmörder beim Badeurlaub. “Ich wär´ dann soweit!”, erklärte er ernsthaft.

Franka sah sich um: Es hatte nur Minuten gebraucht, um den Büroraum wieder so aussehen zu lassen wie am Tage ihres Einzuges – oder vielmehr: sogar noch viel schlimmer. Ein einziges Chaos. An mindestens acht Stellen regnete es von der Decke. Überall lagen aufgeweichte Papiere auf der Erde herum. Dazwischen Sandwiches, leere Flaschen, Computerkabel, Stifte, Schneekugeln und allerlei Bürozeugs. Irgendwo blitzten Funken auf. Es sah aus, wie nach dem Endkampf eines Superhelden in einem Marvelfilm. Ein Schlachtfeld.

Doch jetzt war keine Zeit für so etwas. Schnell strich sie notdürftig ihre Frisur und ihr Kleid glatt – mehr war einfach nicht drin. Wenn sie nicht in einem leeren Foyer präsentieren wollten, dann mussten sie jetzt Schubrakete geben. Franka rief den anderen zu: “Los, lasst alles stehen und liegen! Nehmt nur mit, was ihr unbedingt braucht. Um den Rest kümmert sich die Feuerwehr. Wir gehen jetzt nach unten und zeigen es ihnen.”.

Nass und abgekämpft fanden sich alle beim Fahrstuhl ein: James Bridge, Walter Frese, die vier Praktikanten, der Grafiker, die beiden Sanitäter, die drei Fenster Kings, Franka, ihr Vater und ihre Tochter Anabel. Keiner würdigte den Newsroom – oder was davon übrig war – noch eines einzigen Blickes. “Egal was jetzt kommt. Wir schaffen das!”, stimmte Franka die Truppe ein. Die Fahrstuhltür öffnete sich. Vor ihnen stand Rudy: “Wasserrohrbruch. Es kann sein, dass das Gebäude geräumt werden muss…”, keuchte er.

18:47 Uhr

Die Tür schloss sich und der Aufzug setzte sich ruckartig in Bewegung. Es war ganz schön eng.

“Maximale Traglast 15 Personen”, las die Praktikantin Laura mit vorsichtiger Stimme das Schild an der Kabinenwand vor. “Mir so was von egal”, gab Franka trocken zurück. James musste schmunzeln. Franke grinste zurück. Sein Blick wanderte zu Walter Frese, der in seinem blutigen Jackett neben ihr stand und ebenso breit grinste. Da merkte James, wie sich die ganze Anspannung dieses Tages in seinem Bauch zusammenzog – und sich mit einem Mal in einem unglaublich erleichternden Prusten entlud. Er konnte gar nicht mehr aufhören: “Was für ein Riesenscheiß!“, gluckste er. Die Praktikanten sahen sich an, dann quietschten sie los. Anabel gackerte nun ebenfalls und riss ihren „Opa Jim“ mit, der in ein tiefes Weihnachtsmann-Bariton-HoHoHo ausbrach. Franka, Walter – selbst die Sanitäter schnaubten und wieherten. Alle lachten aus vollem Halse, dass der Fahrstuhl nur so wackelte. Was für eine Befreiung.

“Rums!”, der Aufzug hielt mit einem Ruck und alle Gesichter versuchten wieder ernst und seriös zu wirken. Doch in dem Moment, in dem sich die Tür öffnete und sich alle zum Aussteigen wandten, zwinkerte sich Franka noch einmal unbemerkt im Fahrstuhlspiegel zu. “Wo ist eigentlich Herr März”, fragte sie den jungen Sanitäter beim Rausgehen. “Der wollte noch nicht mitkommen. Hat geschimpft wie ein Rohrspatz. Ich glaube, er sitzt bei den anderen im Foyer“. “Wie bitte? Der wird doch nicht seine Rede halten?”, murmelte Franka. “Oh holy Sh…”, James wischte sich die Tränen aus den Augen.
Im Foyer saßen gerade mal noch sieben Journalisten. Kauend und in ihre Smarthpones, Tablets oder Laptops vertieft. Um sie herum schwirrten Georgia, Leslie Mingfei und Mary. Jede von ihnen mit einem Tablett voller Sandwiches bewaffnet. In der hinteren Ecke lümmelten sich die Handwerker und IT-Kräfte. Am Rand standen ein paar Zuschauer, die Franka nicht einordnen konnte. Wahrscheinlich Mitarbeiter aus anderen Büros des Gebäudekomplexes. Ungeduldig warteten alle auf die Show.

Die Bühne war hell erleuchtet. Es gab einen hohes Rednerpult und einen riesigen Monitor, auf dem das YNN Logo in 3D zu sehen war. Von irgendwoher kam leise Chillout-Musik.
Als die kleine Truppe aus dem Fahrstuhl trat, kam Leben in die Journalistengruppe. Franka ging auf die Bühne und versuchte nach unten zu schauen, doch die Scheinwerfer blendeten sie. Aber sie hörte, dass ein weiterer Pulk von Journalisten von draußen hereingeeilt kam. Das Foyer füllte sich zusehends. Ohne Umschweife nahm Franka das Mikrofon. Nach einer kurzen Rückkopplung hörte man sie laut und deutlich:

“Hallo. Herzlich willkommen. Ich bin Franka Kruse von YNN und stelle Ihnen heute Abend unser Konzept vor. Doch bevor ich das tue, habe ich noch etwas bekanntzugeben…”, weiter kam sie nicht, denn nun rief jemand aus der Menge dazwischen: “Karl Kirstein, Bug Reporter. Stimmt es, dass Ihr Unternehmen von der Míngri Gruppe aufgekauft wurde? Lief eben auf WebTecTV…”. “Ähm, nein, das ist so nicht ganz richtig. Einer unserer Mitarbeiter…”, begann Franka. “Sie meinen diesen Kevin Schmidt?”, kam ihr Kirstein zuvor. “Ja, genau der. Herr Schmidt hat sich ohne unser Wissen an Míngri gewandt und mit denen eine eigene Vereinbarung getroffen, wie es scheint”, erklärte sie. “Wie soll ich das verstehen?”, bohrte der Mitarbeiter vom Bug Reporter nach: “Hat er etwa IHR Konzept verhökert?” “Nein, das kann man so nicht sagen…”, setzte Franka wieder an. “Was kann man denn dann sagen?”, unterbrach Kirstein sie. “Lassen Sie mich ausreden, Herr Kirstein. Ihre Neugier in allen Ehren, aber wenn Sie nicht zuhören, kann ich Ihnen auch nicht erzählen, was Sache ist”, bremste Franka ihn aus.

Im gesamten Foyer wurde es mucksmäuschenstill. Franka ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen: “Wir werden wie geplant in den kommenden Monaten mit unserem Konzept an den Markt gehen. Es wird allerdings etwas anders aussehen als gedacht: Wir stellen nicht die Technik in den Vordergrund, sondern die soziale Interaktion und die kollektive Intelligenz der Crowd”.

Franka spürte eine Hand am Oberarm und sah sich um: “Frau Janssen, was machen Sie denn hier?”, flüsterte sie. Mareike Janssen war auf die Bühne gekommen und zwinkerte ihr aufmunternd zu: “Los, erzählen Sie ihnen vom Stand der Dinge. Meinen Segen haben Sie”.

Da ließ Franka die Bombe platzen: “Was ich eigentlich sagen wollte: Mareike Janssen, von Janssen Media, hat uns ihre Unterstützung zugesagt. Noch in dieser Woche finden die ersten Strategiegespräche statt! Denn Janssen Media – und das können Sie gerne so schreiben – steigt ab sofort bei YNN ein”. Ein Raunen ging durch das Publikum. Franka legte nach: “In aller Bescheidenheit: Wir brauchen keine Míngri-Gruppe. Das schaffen wir ganz gut selbst – das haben wir von YNN einmal bewiesen und das werden wir wieder beweisen”, Franka strahlte: “Und mit ‚wir‘ meine ich das gesamte Team von YNN – kommt doch bitte mal rauf zu mir. Kommt alle hoch!”

Nach und nach wurde es voll auf der Bühne. Franka fuhr fort: “Liebe Gäste, Sie sehen hier das komplette YNN-Team. Für uns war heute wirklich ein ganz mieser Tag, aber er findet nun doch noch ein gutes Ende! Uns wurde zwar das Konzept vor der Nase weggeschnappt und wir werden dagegen vorgehen, aber wichtiger ist: Wir machen weiter! Wir bitten Sie um Verständnis, dass wir uns etwas sortieren müssen, aber dann…” “Was dann?”, hakte Karl Kirstein ein. “Dann werden wir Sie wirklich überraschen”, rief Franka siegessicher ins Foyer. Alles lachte.

Mittlerweile stand das gesamte Team auf der Bühne. Nach einer kurzen, aber hitzigen Diskussion war sogar Manfred, gestützt von den Sanitätern auf die Bühne gekommen. ”Vorher kommt der nicht mit”, hatte einer von ihnen Franka zugeraunt. Er drückte Franka so gut es ging an sich: „Sie sind mir ja eine ganz Heimliche”, grinste er. Als wäre dies ein heimliches Signal gewesen, herrschte ausgelassene Partystimmung, als die ersten Feuerwehrleute in die Halle gestürmt kamen.

“Hallo! Noch mal kurz Ruhe”, rief Franka und die Menge verstummte wieder. “Eines will ich Ihnen allen noch sagen, bevor die Feuerwehr hier das Kommando übernimmt. Denn eines habe ich heute bei allem Ärger gelernt: Technischer Fortschritt und gute Planung sind wichtig. Aber bei weitem nicht so wichtig wie die Menschen, die dahinter stehen. Ja, die großen Schlachtschiffe, die Mingri-Konzerne dieser Welt können sich gute Ideen vielleicht unter den Nagel reißen – aber wir als kleines, wendiges Startup können sie entwickeln!”, Franka machte eine Pause, aber dieses Mal schien selbst der eifrige Kirstein vom Bug Reporter keine Einwände zu haben.

Sie fuhr fort: “Auch wenn wir heute einen Rückschlag erlitten haben… Und jeder von Ihnen weiß wahrscheinlich, wie fies es sich anfühlt, wenn man zu Boden geht.“ Sie schaute in die Runde. „Wichtig ist, immer wieder aufzustehen. Das ist zwar manchmal leichter gesagt als getan. Aber für uns von YNN gibt es einen ganz besonders wichtigen Grund weiterzumachen: Uns – und das was wir in der Welt bewegen können und wollen! James, Walter, Manfred, Jim, Mary, Mingfei, Georgia, Laura, Rudy und all ihr anderen, die ihr mit dabei seid: Ihr seid das beste Team der Welt! Gemeinsam werden wir nicht nur ein absolut innovatives Medium auf die Beine stellen, sondern auch eine Unternehmenskultur entwickeln, die für Kreativität, kollektive Intelligenz und mutige Innovation steht. Janssen Media hat das erkannt und setzt auf uns. Und Sie werden erleben, dass sich die beiden erfahrenen Investoren nicht täuschen!” Einige Journalisten klatschten anerkennend.

Da ergriff Walter Frese das Wort – ohne Mikrofon: “Und jetzt lassen Sie sich die Sandwiches schmecken. Die sind hervorragend. Sie sind nämlich von meiner zukünftigen Frau!” “Wie bitte?” Der spitze Schrei kam von Mary, die ihn mit großen Augen anstarrte. “Du hast ganz richtig gehört! Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende”, feixte Walter.

“Jetzt müssen wir aber…”, der jüngere Sanitäter kam und winkte Manfred zu sich herunter. Er holte die Trage herbei, die er bis eben hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte: “… legen Sie sich bitte doch noch einmal hin…”. Manfred gehorchte und die Sanitäter trugen ihn nach draußen. “Wer will noch Sandwiches oder was zu trinken?”, rief nun Mary mit einem noch immer wie abwesenden Lächeln im Gesicht herunter. Wenigstens zwanzig Hände flogen nach oben. Franka gab den Technikern ein Zeichen, die Scheinwerfer etwas zu dimmen und die Musik lauter zu stellen. Endlich konnte sie nach unten sehen. Es war doch voller, als sie gedacht hatte. Im Getümmel sah sie Mingfei und… Rudy, der fürsorglich einen Arm um sie gelegt hatte.

“Du meine Güte”, flüsterte James Franka zu: “Was für eine Story… Respekt. Deswegen hast Du bis zuletzt immer wieder telefoniert, oder?” “Richtig”, gab diese zurück. “Da hast Du uns heute wirklich allen den Arsch gerettet”, erwiderte er sanft. Statt einer Antwort bemerkte er eine leichte Berührung an seiner eigenen Rückseite. “Ups! Franka! Hast Du etwa was getrunken?”, entfuhr es ihm.
“Nein James, nicht einen Schluck…”.

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